VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 26.10.2011 - 5 K 636/11.TR - asyl.net: M19179
https://www.asyl.net/rsdb/M19179
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da die Kläger nach ihrer Rückkehr in Afghanistan in eine existentielle Notlage geraten würden. Als Frau ist es der Klägerin zu 1) in Afghanistan ohnehin nicht möglich, das für das Überleben der vierköpfigen Familie erforderliche Existenzminimum zu erwirtschaften, sie wird sich außerdem um die minderjährigen Kinder kümmern müssen. Der Ehemann ist Analphabet und ohne berufliche Ausbildung. Sie können in Afghanistan auch nicht auf einen zur Unterstützung fähigen Familienverband zurückgreifen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, Existenzgrundlage, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Den Klägern steht gegenüber der Beklagten jedoch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn - gleich aus welchen Gründen - eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings genügt für die Annahme einer "konkreten Gefahr" im Sinne der Vorschrift nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der "Gefahr" im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab angelegte der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit", wobei allerdings das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert, die außerdem landesweit gegeben sein muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 - unter Hinweis auf den weiteren Beschluss vom 14. März 1997 - 9 B 627.96 -).

Für die Kläger besteht aus dem Grunde eine erhebliche individuelle Gefährdung, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten steht, dass sie alsbald nach ihrer Rückkehr in eine existentielle Notlage geraten werden. Zwar muss gesehen werden, dass bei Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, eine Sperrwirkung für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots besteht, da insoweit die Zuerkennung eines Abschiebeverbots einer generellen Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG durch die insoweit zuständigen Behörden vorbehalten bleiben muss. Diese Sperrwirkung greift bei allgemeinen Gefahren, wie sie zum Beispiel im Hinblick auf die typischen Folgen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen im Heimatland des Ausländers generell bestehen (vgl. ausführlich BVerwG, Urteile vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 - und vom 12.07.2001 - 1 C 5.01 -).

Besteht eine allgemeine Gefahr in diesem Sinne, fehlt es aber an einer Leitentscheidung im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG, so kann die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht. Insoweit kann der Ausländer bei allgemein drohenden Gefahren Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in das Heimatland mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Eine extreme Gefahrenlage i.d.S. besteht beispielsweise dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage sein Existenzminimum nicht sichern kann.

Hiervon ausgehend besteht für die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass sie alsbald nach ihrer Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten werden, da weder die Klägerin zu 1) noch deren Ehemann (Kläger des Verfahrens 5 K 635/11.TR) in der Lage sein werden, das Überleben der zwischenzeitlich 4-köpfigen Familie sicher zu stellen. Als Frau ist es der Klägerin zu 1) in Afghanistan ohnehin nicht möglich, das für das Überleben der Familie erforderliche Existenzminimum zu erwirtschaften. Dies gilt umso mehr, als sie für den minderjährigen Kläger zu 2) sowie ihre im ... 2011 geborene Tochter Sorge zu tragen hat. Der Ehemann der Klägerin zu 1) ist Analphabet und ohne berufliche Ausbildung. Zudem kann die Familie bei ihrer Rückkehr auf keinen zur Unterstützung fähigen Familienverband zurückgreifen. Der Ehemann der Klägerin zu 1) hat in Afghanistan lediglich noch einen Onkel väterlicherseits, der jedoch alt und nicht mehr erwerbsfähig ist. Seitens der Klägerin zu 1) lebt in Afghanistan noch deren Mutter. Unterstützung durch diese ist in Anbetracht des Umstandes, dass sie noch die Sorge für einen jüngeren Bruder und für drei Schwestern der Klägerin trägt, nachvollziehbarer Weise jedoch nicht zu erwarten. Diese ist vielmehr selbst auf Unterstützung durch den älteren Bruder der Klägerin angewiesen, der wiederum jedoch für eine eigene Familie Sorge zu tragen hat, so dass auch insoweit bei lebensnaher Betrachtungsweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Kläger bei ihrer Rückkehr verlässlich auf familiäre Hilfe zählen können. Ohne existenzsichernde Unterstützung durch einen in Afghanistan lebenden Familienverband ist jedoch davon auszugehen, dass die vierköpfige Familie nach ihrer Rückkehr alsbald in eine lebensbedrohliche Lage geraten wird. [...]