EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 15.11.2011 - C-256/11 - Dereci u.a. gg. Österreich - asyl.net: M19216
https://www.asyl.net/rsdb/M19216
Leitsatz:

Zum Aufenthaltsrecht drittstaatsangehöriger Familienmitglieder von Unionsbürgern:

Der Kernbestand der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, ist nur dann gefährdet, wenn sich der Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, de facto gezwungen sieht, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

Der Wunsch des Zusammenlebens im Gebiet der Union zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft mit einem Familienangehörigen, der nicht die Staatsbürgerschaft eines MItgliedsstaates besitzt, stützt für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde. Dabei bleibt jedoch offen, ob auf anderen Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf.

Schlagwörter: Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, Familienangehörige, Freizügigkeitsrecht, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Ungleichbehandlung, Stillhalteklausel, Dereci,
Normen: ARB 1/80 Art. 13, ZP Art. 41
Auszüge:

[...]

44 Einleitend ist festzustellen, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren Drittstaatsangehörige sind, die ein Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat begehren, um dort mit Familienangehörigen zu wohnen, die Unionsbürger sind und von ihrem Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten keinen Gebrauch gemacht haben.

45 Zur Beantwortung der ersten Frage in ihrer vom Gerichtshof umformulierten Form ist zunächst zu klären, ob die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 auf die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren anwendbar sind.

46 Erstens ist in Bezug auf die Richtlinie 2003/86 festzustellen, dass ihr Ziel nach ihrem Art. 1 die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige ist, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

47 Nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 findet sie jedoch auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung.

48 Da es im Rahmen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Unionsbürger sind, die sich in einem Mitgliedstaat aufhalten, während ihre Familienangehörigen, die Drittstaatsangehörige sind, beabsichtigen, in den Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, um die Familiengemeinschaft mit den Unionsbürgern aufrechtzuerhalten, ist die Richtlinie 2003/86 auf die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nicht anwendbar.

49 Im Übrigen sollten zwar, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, nach dem von ihr am 11. Jänner 2000 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ([2000/C 116 E/15], KOM[1999] 638 endg. – 1999/0258[CNS], ABl. C 116 E, S. 66) in den Anwendungsbereich der Richtlinie die Unionsbürger einbezogen werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen hatten, doch wurde von ihrer Einbeziehung im Rechtsetzungsverfahren, das zum Erlass der Richtlinie 2003/86 führte, abgesehen.

50 Zweitens hat der Gerichtshof in Bezug auf die Richtlinie 2004/38 bereits festgestellt, dass sie die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll und insbesondere bezweckt, dieses Recht zu stärken (vgl. Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C-127/08, Slg. 2008, I-6241, Randnrn. 82 und 59, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

51 Wie sich aus den Randnrn. 24 bis 26 des vorliegenden Urteils ergibt, fallen Frau Heiml, Herr Dereci und Herr Maduike als Ehegatten von Unionsbürgern unter den Begriff "Familienangehörige" in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38. Auch Herr Kokollari und Frau Stevic können als Verwandte in gerader absteigender Linie von Unionsbürgern unter den genannten Begriff fallen, wobei dies, da sie das 21. Lebensjahr vollendet haben, nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie voraussetzt, dass ihnen von diesen Unionsbürgern Unterhalt gewährt wird.

52 Die Richtlinie 2004/38 findet jedoch, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, auf Sachverhalte wie diejenigen der Ausgangsverfahren keine Anwendung.

53 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 nämlich für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die ihn begleiten oder ihm nachziehen (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 39).

54 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, fällt nach einer grammatikalischen, teleologischen und systematischen Auslegung dieser Bestimmung ein Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese auf ihn nicht anwendbar ist (Urteil McCarthy, Randnrn. 31 und 39).

55 Ferner hat er festgestellt, dass, wenn ein Unionsbürger nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, auch sein Familienangehöriger nicht unter diesen Begriff fällt, da die durch diese Richtlinie den Familienangehörigen eines nach ihr Berechtigten verliehenen Rechte keine eigenen Rechte dieser Angehörigen, sondern abgeleitete Rechte sind, die sie als Familienangehörige des Berechtigten erworben haben (vgl. in Bezug auf einen Ehegatten Urteil McCarthy, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56 Aus der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nämlich nicht für alle Drittstaatsangehörigen das Recht, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteil Metock u. a., Randnr. 73).

57 Da im vorliegenden Fall die betreffenden Unionsbürger nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, fallen sie nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese weder auf sie noch auf ihre Familienangehörigen anwendbar ist.

58 Folglich sind die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht begehren, um zu Familienangehörigen zu ziehen, die Unionsbürger sind, aber nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

– Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des Vertrags über die Unionsbürgerschaft

59 Ungeachtet der Unanwendbarkeit der Richtlinien 2003/86 und 2004/38 auf die Ausgangsverfahren ist zu prüfen, ob sich die in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Unionsbürger gleichwohl auf die Bestimmungen des Vertrags über die Unionsbürgerschaft berufen können.

60 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen nicht auf Sachverhalte angewandt werden können, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Randnr. 33, Metock u. a., Randnr. 77, und McCarthy, Randnr. 45).

61 Die Lage eines Unionsbürgers, der – wie es auf alle Familienangehörigen der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren zutrifft – vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann jedoch nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden (vgl. Urteile vom 12. Juli 2005, Schempp, C-403/03, Slg. 2005, I-6421, Randnr. 22, und McCarthy, Randnr. 46).

62 Der Gerichtshof hat nämlich mehrfach hervorgehoben, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63 Als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats genießen die Familienangehörigen der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren den Unionsbürgerstatus gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV und können sich daher auch gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen (vgl. Urteil McCarthy, Randnr. 48).

64 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 42).

65 In der Rechtssache, die zu dem genannten Urteil führte, stellte sich nämlich die Frage, ob eine derartige Auswirkung vorliegt, wenn einer einem Drittstaat angehörenden Person im Mitgliedstaat des Wohnsitzes ihrer minderjährigen Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis verweigert werden. Der Gerichtshof vertrat u.a. die Ansicht, dass eine solche Aufenthaltsverweigerung zur Folge hat, dass sich die genannten Kinder, die Unionsbürger sind, gezwungen sehen, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten. Unter derartigen Umständen wäre es den genannten Unionsbürgern de facto unmöglich, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnrn. 43 und 44).

66 Daraus folgt, dass sich das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, auf Sachverhalte bezieht, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes.

67 Diesem Kriterium kommt somit insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen – obwohl das das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen betreffende abgeleitete Recht nicht anwendbar ist – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde.

68 Infolgedessen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde.

69 Damit bleibt zwar noch offen, ob auf anderen Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf. Auf diese Frage ist jedoch im Rahmen der Bestimmungen über den Schutz der Grundrechte und nach Maßgabe ihrer jeweiligen Anwendbarkeit einzugehen. [...]