Ist bei einem Familienangehörigen die Zuständigkeit für das Asylverfahren nach der Dublin II-Verordnung zwischenzeitlich auf Deutschland übergegangen, entsteht bezüglich der weiteren Familienangehörigen aufgrund von Art. 6 GG eine Ermessensreduktion auf Null für die Entscheidung des Bundesamtes, ob vom Selbsteintrittsrecht gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung Gebrauch zu machen ist.
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Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach Polen setzt nach § 34a Abs. 1 AsylVfG voraus, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist mit der Folge, dass der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig im Sinne des § 27a AsylVfG ist.
Zwar ergibt sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger nicht aus den Regelungen des Kapitels III der Dublin II-Verordnung, in denen die Kriterien der Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats geregelt sind. Insbesondere folgt die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht aus Art. 8 Dublin II-VO, wonach für einen Asylbewerber, der in einem Mitgliedsstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Asylantrag noch keine erste Sachentscheidung getroffen wurde, dieser Mitgliedsstaat zuständig ist, sofern die betroffenen Personen dies wünschen. Denn nach Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO ist die Situation maßgeblich, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal gestellt hat. Zu diesem Zeitpunkt - im Jahr 2008 - war Polen zuständig, da sich die Kläger und ihr Ehemann bzw. Vater in Polen gemeinsam aufhielten und dort Asylantrag stellten mit der Folge, dass zu diesem Zeitpunkt die Kläger keinen Familienangehörigen im Sinne des Art. 8 Dublin II-VO in der Bundesrepublik Deutschland hatten. Somit bleibt es nach den Kriterien der Art. 5 ff. Dublin II-VO bei der Zuständigkeit Polens für die Durchführung der erneuten Asylanträge der Kläger, obgleich für die Prüfung des Asylantrags des Ehemanns bzw. Vaters der Kläger mittlerweile die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist. Dementsprechend hat sich Polen auf das Übernahmeersuchen der Beklagte gemäß Art. 16 Abs. 1 e Dublin II-VO zur Wiederaufnahme der Kläger bereit erklärt.
Allerdings ist die Entscheidung der Beklagten im angefochtenen Bescheid, wonach außergewöhnliche humanitäre Gründe für einen Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht gegeben seien, ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig im Sinne des § 114 VwGO. Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Absatz 1 dieses Artikels einen von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin II-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine Ermessensvorschrift, so dass der Asylbewerber mit Ausnahme der Fälle, in denen eine Ermessensreduktion auf Null gegeben ist, keinen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Beklagte besitzt. Allerdings besitzt der Asylbewerber einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (vgl. GK zum AsylVfG, § 27a, RdNr. 135). Eine solche hat die Beklagte vorliegend nicht getroffen. Insbesondere hat sie bei ihrer Entscheidung nicht in ausreichendem Maß berücksichtigt, dass der Ehemann bzw. Vater der Kläger nicht mehr nach Polen zurückgeführt werden kann, da die Bundesrepublik Deutschland mittlerweile für diesen ein Asylverfahren durchführt und die diesbezügliche Zuständigkeit somit auf die Beklagte übergegangen ist. Die Beklagte hätte diese Situation im streitgegenständlichen Bescheid eingehend würdigen und vertiefend prüfen müssen, ob es zur Wiederherstellung der Familieneinheit im vorliegenden Fall, in dem es sich aufdrängt, dass die Klägerin zu 1) zur Versorgung ihrer sieben Kinder zwingend auf die Unterstützung ihres Ehemanns angewiesen ist, grundgesetzlich nach Art. 6 GG und unter Berücksichtigung des in Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO dargelegten Grundsatzes der Zusammenführung von Familienangehörigen geboten ist, auch das Asylverfahren der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid genügen diesen verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen nicht. Eine Auseinandersetzung mit diesem Umstand ist entgegen der Auffassung der Beklagten im Schriftsatz vom 10. Oktober 2011, in dem sie gemäß § 114 Satz 2 VwGO ihre Ermessenserwägungen zulässigerweise ergänzt hat, auch nicht vor dem Hintergrund entbehrlich, dass der Ehemann bzw. Vater der Kläger keine Bereitschaft zeigt, zur Wahrung der Familieneinheit einer Durchführung seines Asylverfahrens in Polen zuzustimmen. Hierbei verkennt die Beklagte, dass gegenwärtig die Zuständigkeit für die Durchführung dieses Asylverfahrens bei der Bundesrepublik Deutschland liegt und diese Zuständigkeit letztendlich dadurch begründet wurde, dass der Ehemann bzw. Vater der Kläger krankheitsbedingt nicht fristgerecht nach Polen zurückgeführt werden konnte.
Da somit die Entscheidung der Beklagten über das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO ermessensfehlerhaft ist, sind die Feststellung der Unzulässigkeit der Asylanträge der Kläger und die Anordnung der Abschiebung der Kläger nach Polen rechtswidrig. [...]