LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.09.2011 - L 14 AS 1148/11 B ER - asyl.net: M19246
https://www.asyl.net/rsdb/M19246
Leitsatz:

Aus der Verordnung (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherung dürfte sich ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II für alle Unionsbürger (auch Staatsangehörige aus Rumänien und Bulgarien) nach den gleichen Maßstäben wie für Deutsche ableiten, selbst wenn das Aufenthaltsrecht nur auf der Arbeitssuche beruht. (Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Unionsbürger, SGB II, Leistungsausschluss, erwerbsfähig, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsbescheinigung, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Rumänien, Bulgarien
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, VO 883/2004 Art. 2, VO 883/2004 Art. 3, VO 883/2004 Art. 4, VO 883/2004 Art. 70, FreizügG/EU § 3, FreizügG/EU § 5, RL 2004/38/EG Art. 14 Abs. 4 Bst. b
Auszüge:

[...] Die Beschwerde[ ] der Antragstellerin mit den sinngemäßen Anträgen, den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juni

2011 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 291 EUR monatlich sowie Kosten für die

Unterkunft in Höhe von 195,33 EUR monatlich zu gewähren, und ihr für beide Instanzen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer bevollmächtigten Rechtsanwältin zu bewilligen, hat im tenorierten Umfang Erfolg. [...]

Zwar steht einem Anordnungsanspruch der am 1990 geborenen, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 und 2 SGB II nach Erteilung einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU erwerbsfähigen und nach ihrem glaubhaftem Vorbringen auch hilfebedürftigen Antragstellerin b Staatsangehörigkeit der Wortlaut des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegen. Danach sind von Leistungen nach diesem Buch ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthalts- recht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Dies trifft hier zu. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin, die über eine Bescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU, BGBl. I 2004, S. 1986) verfügt, wird auch nicht aufgrund eines sonstigen Freizügigkeitsrechts im Sinne des § 2 FreizügG/EU begrün- det. Ihr Vortrag, sie wolle eine Ausbildung in D absolvieren, begründet insbesondere kein Aufenthalts- recht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, da sie bisher kein Berufsausbildungsverhältnis vorweisen kann. Dahinstehen kann, ob ein Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin zunächst auch aus § 3 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU hergeleitet werden konnte, nachdem sie im September 2010 zu ihrer bereits in D lebenden Mutter, die für sich und ihren minderjährigen Sohn bzw. Bruder der Antragstellerin Leistun- gen nach dem SGB II erhält, nachgezogen ist. Denn die Antragstellerin vollendet am 2011 ihr 21. Lebensjahr, welches einem hiernach begründeten Aufenthaltsrecht entgegensteht. Ein Erlöschen des Aufenthaltsrechts hat die Ausländerbehörde nicht festgestellt. Kann sich mithin das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin mit Vollendung des 21. Lebensjahres allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben, kommt es darauf an, ob sie aus diesem Grund von der Leistungsberechtigung ausgeschlossen ist. Hiervon kann jedoch nach summarischer Prüfung nicht ausgegangen werden.

In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Juni 2011 – L 25 AS 535/11 B ER – Juris Rn. 2 m.w.N.). Der bundesrechtliche Leistungsausschluss wird mit Art. 24 Abs. 2 der so genannten Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl. 2004 L Nr. 158, 77, berichtigt in ABl. Nr. L 229 S. 35 <UBRL>) begründet (vgl. BT-Drs. 16/688, 13). Als Ausnahme vom nach Art. 24 Abs. 1 UBRL geltenden Grundsatz der Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit Inländern in allen Rechtsbereichen regelt deren Art. 24 Abs. 2, dass Unionsbürger ausnahmsweise von der „Sozialhilfe“ ausgeschlossen werden können. Hiernach ist der Aufnahmemitgliedstaat „nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.“ Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) UBRL regelt das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern, die „eingereist sind, um Arbeit zu suchen“. Nr. 10 der Gründe der UBRL erläutert, dass „Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen“ sollten. [...]

Die Europarechtskonformität wird aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 833/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – VO 883/2004 – zunehmend bezweifelt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.August 2011, a.a.O.; LSG Hessen, Beschluss vom 14. Juli 2011 – L 7 AS 107/11 B ER – Juris Rn. 18). Diese hat am Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung am 1. Mai 2010 (vgl. Art. 91,

97 der Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO 883/2004) Gültigkeit erlangt und damit die VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, weitgehend abgelöst (vgl. Art. 90 VO 883/2004).

Die VO 883/2004 findet nach ihrem Art. 2 Abs. 1 Anwendung für Staatsangehörige eines Mitglied- staats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen oder Hinterbliebenen. Nach Art. 3 der VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staats- angehörigen dieses Staats. Sachlich gilt die VO 883/2004 nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. h) unter anderem für Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Sie ist nach ihrem Art. 3 – sofern in Anhang XI nichts anderes bestimmt ist, welches für den vorliegenden Regelungszusammenhang nicht der Fall ist – sachlich u.a. anwendbar für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie nach Art. 3 Abs. 3 „auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70“. Wie sich aus Art. 70 Abs. 2 i.V.m. Anhang X zur VO 883/2004 ergibt – Art. 70 bildet eine allgemeine Vorschrift für besondere beitrags- unabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persön- lichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Art. 3 Abs. 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozial- hilfe aufweisen (vgl. Abs. 1) –, fallen unter die von Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 erfassten Leistungen der sozialen Sicherheit neben den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitssuchende, soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeits- losengeld (§ 24 Absatz 1 SGB II) erfüllt sind. Nach Art. 4 der VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschrif- ten eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Daran, dass die Antragstellerin als Unionsbürgerin vom persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung erfasst ist, bestehen keine durchgreifenden Zweifel. Insbesondere ist die in der VO (EWG) 1408/71 noch vorgesehene Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs nur auf Arbeitnehmer und Selbständige (vgl. Art. 2 VO [EWG] 1408/71), nach Art. 2 VO 883/2004 nicht mehr enthalten. Zu berücksichtigen ist außerdem der Grundsatz der Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, der den Organen der deutschen öffentlichen Gewalt gebietet, Verstöße gegen das Völkerrecht und das Unionsrecht zu vermeiden, soweit dies im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts möglich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 – 2 BvF 1/07 – Juris Rn. 133 m.w.N.). Hiernach spricht mehr dafür als dagegen, dass der Antragstellerin gegenüber der bundesrechtlich geregelte Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II voraussichtlich keine Geltung beanspruchen wird. Darauf, ob die Antragstellerin in B vor ihrer Einreise nach Deutschland sozial abgesichert war oder im Falle einer Rückkehr ins Heimatland abgesichert wäre, kommt es bei dieser Sachlage nicht an. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich aus der VO 883/2004 ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II für alle Unionsbürger (auch Staats- angehörige aus Rumänien und Bulgarien) nach den gleichen Maßstäben wie für Deutsche ableitet, selbst wenn das Aufenthaltsrecht nur auf der Arbeitssuche beruht, oder wenn – so gegebenenfalls hier mangels Arbeitssuche auch dieser Aufenthaltsgrund nicht vorliegt, die Ausländerbehörde aber nicht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU festgestellt hat, dass das Aufenthaltsrecht erloschen ist (so auch Georg Classen, Sozialleistungen für MigrantInnen nach SGB II, SGB XII und AsylbLG, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Classen_SGB_II_XII_ AsylbLG.pdf). [...]