EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.12.2011 - C-329/11 - Achughbabian gg. Frankreich - asyl.net: M19253
https://www.asyl.net/rsdb/M19253
Leitsatz:

Die Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) ist dahin auszulegen, dass sie

- der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat,

- einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält.

(Amtlicher Leitsatz)

(Vgl. EuGH Urteil vom 07.06.2016, Rechtssache C-47/15, Affum gg. Frankreich, asyl.net: M23882)

Schlagwörter: Rückführungsrichtlinie, Drittstaatsangehörige, Straftat, Ausländerstrafrecht, unerlaubter Aufenthalt, Sanktionen, Strafbarkeit, Abschiebungshaft, Strafhaft, Haftstrafe, Abschiebung, Inhaftierung,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 8,
Auszüge:

[...]

Zur Vorlagefrage

28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Richtlinie 2008/115 nur auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen bezieht, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, und somit nicht zum Ziel hat, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich steht die Richtlinie dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße gegen die nationalen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften abzuschrecken und sie zu ahnden.

29 Da sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, steht diese Richtlinie außerdem einer Inhaftierung zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen.

30 Diese Feststellung wird durch den 17. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie bekräftigt, aus dem hervorgeht, dass die Voraussetzungen für den ursprünglichen Aufgriff eines Drittstaatsangehörigen, der im Verdacht steht, sich illegal in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, weiterhin im nationalen Recht geregelt sind. Wie die französische Regierung geltend macht, wäre das Ziel der Richtlinie 2008/115, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gefährdet, wenn es den Mitgliedstaaten nicht möglich wäre, durch einen Freiheitsentzug wie den Polizeigewahrsam zu verhindern, dass ein des illegalen Aufenthalts Verdächtiger flieht, noch bevor seine Situation geklärt werden kann.

31 Zu berücksichtigen ist dabei, dass die zuständigen Behörden über eine zwar kurze, aber angemessene Zeit verfügen müssen, um die Identität der kontrollierten Personen festzustellen und um die Fakten zu recherchieren, auf deren Grundlage entschieden werden kann, ob es sich bei dieser Person um einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen handelt. Die Feststellung des Namens und der Staatsangehörigkeit kann sich bei mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen als schwierig erweisen. Die Prüfung, ob ein illegaler Aufenthalt vorliegt, kann sich ebenfalls als sehr komplex erweisen, insbesondere, wenn der Betroffene den Status eines Asylbewerbers oder eines Flüchtlings geltend macht. Daher sind die zuständigen Behörden verpflichtet, zügig zu handeln, um nicht, wie in der vorangehenden Randnummer ausgeführt, das Ziel der Richtlinie 2008/115 zu gefährden, und sie müssen umgehend darüber entscheiden, ob der Aufenthalt der betroffenen Person illegal ist oder nicht. Stellt sich heraus, dass der Aufenthalt illegal ist, müssen die genannten Behörden nach Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie und unbeschadet der dort vorgesehenen Ausnahmen eine Rückkehrentscheidung erlassen.

32 Auch wenn sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, dass die Richtlinie 2008/115 weder einer nationalen Regelung wie Art. L. 621-1 CESEDA entgegensteht, soweit diese den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen einschließlich einer Freiheitsstrafe vorsieht, um diesen Aufenthalt zu ahnden, noch der Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, um zu ermitteln, ob dessen Aufenthalt illegal ist oder nicht, ist im Folgenden dennoch zu prüfen, ob diese Richtlinie einer Regelung wie Art. L. 621-1 CESEDA entgegensteht, soweit diese zu einer Inhaftierung zur Strafvollstreckung während des von der genannten Richtlinie geregelten Rückkehrverfahrens führen kann.

33 Insoweit hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass das Strafrecht und das Strafprozessrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass aber dieser Rechtsbereich gleichwohl vom Unionsrecht berührt werden kann. Daher müssen die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass weder Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG, der in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen wurde, noch die Richtlinie 2008/115, die u.a. auf der Grundlage der erwähnten Bestimmung des EG-Vertrags ergangen ist, die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließen, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich so ausgestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten dürfen keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte (Urteil El Dridi, Randnrn. 53 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

36 Sodann ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 klar, dass die darin verwendeten Begriffe "Maßnahmen" und "Zwangsmaßnahmen" sich auf jegliches Vorgehen beziehen, das auf wirksame Weise unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zur Rückkehr des Betroffenen führt. Nach Art. 15 der genannten Richtlinie ist die Inhaftnahme des Betroffenen nur zulässig, um die Abschiebung vorzubereiten und zu ermöglichen, und dieser Freiheitsentzug darf nur für die Höchstdauer von sechs Monaten aufrechterhalten werden. Die Haft kann nur in den Fällen um weitere zwölf Monate verlängert werden, in denen die Rückkehrentscheidung während der genannten sechs Monate wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten nicht vollstreckt werden konnte.

37 Die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rückkehrverfahrens trägt nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung bei, d. h. zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat. Eine derartige Strafe stellt somit keine "Maßnahme" oder "Zwangsmaßnahme" im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2008/115 dar. [...]

45 Insoweit genügt die Feststellung, dass sich sowohl aus der Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit als auch aus den Erfordernissen der Wirksamkeit, auf die u.a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hingewiesen wird, ergibt, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Abs. 1 dieser Vorschrift genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist. Diesem Erfordernis würde ganz offensichtlich nicht genügt, wenn der betreffende Mitgliedstaat, nachdem er den illegalen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen festgestellt hätte, vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung oder gar vor deren Erlass ein Strafverfahren durchführte, das gegebenenfalls zu einer Freiheitsstrafe führte. Ein solches Vorgehen würde die Abschiebung verzögern (Urteil El Dridi, Randnr. 59) und wird im Übrigen nicht unter den in Art. 9 der Richtlinie 2008/115 genannten Gründen aufgeführt, die einen Aufschub der Abschiebung rechtfertigen.

46 Aus den vorstehenden Ausführungen folgt zwar, dass die durch die Richtlinie 2008/115 gebundenen Mitgliedstaaten für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in den Fällen keine Freiheitsstrafe vorsehen dürfen, in denen diese nach den in dieser Richtlinie festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren abzuschieben sind und zur Vorbereitung oder Durchführung dieser Abschiebung höchstens in Abschiebehaft genommen werden dürfen, doch schließt dies nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten aus, Vorschriften – gegebenenfalls strafrechtlicher Art – zu erlassen oder beizubehalten, die unter Beachtung der Grundsätze und des Ziels der genannten Richtlinie den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen abzuschieben (Urteil El Dridi, Randnrn. 52 und 60). [...]

50 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie

- der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat,

- einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält. [...]