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EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08 - asyl.net: M19257
https://www.asyl.net/rsdb/M19257
Leitsatz:

1. Der türkischen Staatsangehörigen durch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gewährte Ausweisungsschutz weist nicht denselben Umfang auf wie der Schutz, den die Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 Bst. a der Richtlinie 2004/38 genießen, so dass die für Unionsbürger geltende Regelung des Ausweisungsschutzes nicht entsprechend auf türkische Staatsangehörige angewandt werden kann, um die Bedeutung und die Tragweite dieses Art. 14 Abs. 1 zu bestimmen.

2. Der Bezugsrahmen für eine Ausweisungsentscheidung wird durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 (Daueraufenthaltsrichtlinie) gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen.

Schlagwörter: Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Freizügigkeit, Ausweisung, Strafrecht, Straftat, Aufenthaltsrecht, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei
Normen: ARB 1/80 Art. 7 Abs. 1 2. Gedankenstrich, ARB Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

[...]

47 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen den Fall eines türkischen Staatsangehörigen betrifft, der vor Erlass der im Ausgangsverfahren streitigen Ausweisungsverfügung sämtliche Voraussetzungen für den rechtmäßigen Genuss der Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllte.

48 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, entfaltet der genannte Art. 7 Abs. 1 unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten und beinhalten die Rechte auf dem Gebiet der Beschäftigung, die diese Vorschrift dem betroffenen türkischen Staatsangehörigen verleiht, zwangsläufig die Anerkennung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat (vgl. u. a. Urteile vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, C-303/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 31, 35 und 36, sowie vom 16. Juni 2011, Pehlivan, C-484/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 39 und 43).

49 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung kann ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, die ihm nach dieser Vorschrift zustehenden Rechte nur in zwei Fällen verlieren, und zwar, wenn entweder die Anwesenheit des türkischen Migranten im Aufnahmemitgliedstaat wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses darstellt oder der Betroffene das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. u. a. Urteile Bozkurt, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Pehlivan, Randnr. 62).

50 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft den ersten dieser beiden Fälle, in denen es zum Verlust der Rechte kommt, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den türkischen Staatsangehörigen verleiht, und insbesondere die Bestimmung des genauen Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses vorgesehenen Ausnahme vom Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung in einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens.

51 Es steht außer Zweifel, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie Herr Ziebell, der im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Beschluss Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigt ist, sich vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats auf den genannten Art. 14 Abs. 1 berufen kann, um die Anwendung einer mit dieser Vorschrift unvereinbaren nationalen Maßnahme zu verhindern.

52 Nachdem der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen hat, nach der sowohl der Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne dieser Vorschrift als auch die insofern maßgeblichen Kriterien und die Garantien, die der Betroffene in diesem Zusammenhang geltend machen kann, entsprechend den Grundsätzen ausgelegt werden müssen, die für die Unionsbürger im Rahmen von Art. 48 Abs. 3 EWG-Vertrag (später Art. 48 Abs. 3 EG-Vertrag, dann Art. 39 Abs. 3 EG) gelten, wie er durch die Richtlinie 64/221 durchgeführt und konkretisiert wurde (vgl. u. a. Urteile vom 10. Februar 2000, Nazli, C-340/97, Slg. 2000, I-957, Randnrn. 55, 56 und 63, vom 2. Juni 2005, Dörr und Ünal, C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Randnrn. 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Bozkurt, Randnr. 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), möchte er wissen, ob, da diese Richtlinie durch die Richtlinie 2004/38 aufgehoben wurde und die Frist für die Umsetzung der letztgenannten Richtlinie abgelaufen ist, deren Vorschriften auf türkische Staatsangehörige entsprechend anzuwenden sind.

53 Was die Lage eines türkischen Staatsangehörigen wie Herrn Ziebell betrifft, der sich mehr als zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, ist insbesondere zu klären, ob sich der Ausweisungsschutz, den der Betroffene nach Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genießt, nach denselben Bestimmungen richtet, wie sie nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 den Unionsbürgern zugutekommen.

54 Nach Auffassung von Herrn Ziebell sind die Bestimmungen des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 zum Ausweisungsschutz auf einen von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfassten Fall entsprechend anzuwenden.

55 Zur Begründung seiner Auslegung führt er an, erstens bestehe eines der Hauptziele des Assoziierungsabkommens in der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die einen der wesentlichen Aspekte des EG-Vertrags darstelle, zweitens habe der Gerichtshof in seiner in Randnr. 52 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung die entsprechenden für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten geltenden Grundsätze auf türkische Staatsangehörige übertragen, die eine Rechtsposition aufgrund einer Bestimmung des Assoziierungsabkommens besäßen, und drittens hätten nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38 die Bestimmungen der Richtlinie 64/221 ersetzt. Eine solche Analogie sei umso mehr geboten, als die Richtlinie 2004/38 nur den durch das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof gewährten Ausweisungsschutz präzisiert habe, indem sie die individuellen Rechte auf dem Gebiet der Freizügigkeit und des Aufenthalts, wie die Rechtsprechung sie schon vor Anwendbarkeit der Richtlinie anerkannt habe, kodifiziert, aber nicht grundlegend erweitert habe.

56 Nach Ansicht von Herrn Ziebell wäre daher seine Ausweisung aus Deutschland nur aus "zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit" im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 zulässig. Bei den von ihm begangenen Straftaten könne es sich offensichtlich nicht um solche zwingenden Gründe handeln, und seine Ausweisung aus diesem Mitgliedstaat sei daher nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.

57 Dieser von Herrn Ziebell vertretenen Auslegung des Unionsrechts kann jedoch nicht gefolgt werden.

58 Zwar müssen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, auf die in Randnr. 52 des vorliegenden Urteils verwiesen wird, die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG–Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u. a. Urteil Dörr und Ünal).

59 Entsprechend hat der Gerichtshof zur Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 festgelegten Ausnahme der öffentlichen Ordnung auf seine Auslegung der in Art. 48 Abs. 3 des Vertrags und der Richtlinie 64/221 vorgesehenen gleichen Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Angehörigen der Mitgliedstaaten abgestellt (vgl. u. a. Urteil Nazli).

60 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 42 ff. seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist es jedoch nicht möglich, die Regelung zum Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie sie in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 vorgesehen ist, im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen.

61 Nach ständiger Rechtsprechung ist ein völkerrechtlicher Vertrag nämlich nicht nur nach seinem Wortlaut, sondern auch im Licht seiner Ziele auszulegen (vgl. u. a. Stellungnahme 1/91 vom 14. Dezember 1991, Slg. 1991, I-6079, Randnr. 14, und Urteil vom 2. März 1999, Eddline El-Yassini, C-416/96, Slg. 1999, I-1209, Randnr. 47).

62 Um festzustellen, ob sich eine Vorschrift des Unionsrechts für eine entsprechende Anwendung im Rahmen der Assoziation EWG–Türkei eignet, sind daher Zweck und Kontext des Assoziierungsabkommens mit Zweck und Kontext des betreffenden Rechtsakts des Unionsrechts zu vergleichen.

63 Erstens ist zur Assoziation EWG–Türkei festzustellen, dass das Assoziierungsabkommen nach seinem Art. 2 Abs. 1 zum Ziel hat, u.a. durch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragspartnern zu fördern.

64 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 45 und 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verfolgt die Assoziation EWG–Türkei einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck. 65 Außerdem heißt es in Art. 12 des Assoziierungsabkommens, dass "[d]ie Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen". Das Zusatzprotokoll bestimmt in seinem Art. 36 die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Republik Türkei und sieht vor, dass "der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt". Der Beschluss Nr. 1/80 bezweckt nach seinem dritten Erwägungsgrund, im sozialen Bereich die Regelung zugunsten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern.

66 Gerade dem Wortlaut dieser Vorschriften und dem mit ihnen verfolgten Zweck hat eine ständige Rechtsprechung seit dem Urteil vom 6. Juni 1995, Bozkurt (C-434/93, Slg. 1995, I-1475, Randnrn. 19 und 20), entnommen, dass die im Rahmen der Art. 39 EG und 41 EG geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden müssen, die durch die Assoziation EWG–Türkei zuerkannte Rechte besitzen (vgl. Randnr. 58 des vorliegenden Urteils).

67 Konkret zum Umfang der in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung hat der Gerichtshof daher entschieden, dass darauf abzustellen ist, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgelegt wird. Ferner hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang festgestellt, dass eine solche Auslegung umso mehr gerechtfertigt ist, als die genannte Vorschrift des Beschlusses Nr. 1/80 nahezu denselben Wortlaut wie Art. 39 Abs. 3 EG hat (vgl. u. a. Urteil vom 4. Oktober 2007, Polat, C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68 Daraus folgt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine solche Übertragung der Grundsätze, auf denen die unionsrechtliche Grundfreiheit der Freizügigkeit basiert, nur durch das in Art. 12 des Assoziierungsabkommens festgeschriebene Ziel der Assoziation EWG–Türkei gerechtfertigt ist, schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen (vgl. u. a. Urteil Dörr und Ünal, Randnr. 66). Indem diese Vorschrift auf die Artikel des Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer Bezug nimmt, bestätigt sie jedoch, dass der Assoziation ein ausschließlich wirtschaftlicher Zweck zugrunde liegt.

69 Zweitens ist zu dem betreffenden Unionsrecht zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/38 auf die Art. 12 EG, 18 EG, 40 EG, 44 EG und 52 EG gestützt ist. Diese Richtlinie, die sich keineswegs auf die Verfolgung eines rein wirtschaftlichen Ziels beschränkt, soll die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu verstärken (vgl. Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 23).

70 Daher wird mit dieser Richtlinie eine erheblich verstärkte Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen geschaffen, die umso weiter reichende Garantien vorsieht, je besser die Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind (Urteil Tsakouridis, Randnrn. 25 bis 28 sowie 40 und 41). 71 Außerdem findet der Begriff der "zwingenden Gründe" der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, der eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit betrifft, die einen besonders hohen Schweregrad aufweist, und den Erlass einer Ausweisungsmaßnahme nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässt, keine Entsprechung in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 (Urteil Tsakouridis, Randnrn. 40 und 41).

72 Aus diesem Vergleich folgt, dass die Assoziation EWG–Türkei im Unterschied zum Unionsrecht, wie es sich aus der Richtlinie 2004/38 ergibt, nur ein rein wirtschaftliches Ziel verfolgt und sich auf eine schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt.

73 Dagegen ist der Begriff der Unionsbürgerschaft, die sich allein daraus ergibt, dass eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, ohne dass es auf die Arbeitnehmereigenschaft ankommt, und die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. u. a. Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 82, sowie vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C-34/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 41), wie er in den Art. 17 EG bis 21 EG beschrieben ist, kennzeichnend für das Unionsrecht in seinem gegenwärtigen Entwicklungsstadium und rechtfertigt es, dass nur den Unionsbürgern erheblich verstärkte Garantien in Bezug auf die Ausweisung zuerkannt werden, wie diejenigen des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38.

74 Wegen der erheblichen Unterschiede, die nicht nur im Wortlaut, sondern auch hinsichtlich des Gegenstands und des Zwecks zwischen den Bestimmungen über die Assoziation EWG–Türkei und dem die Unionsbürgerschaft betreffenden Unionsrecht bestehen, können die beiden fraglichen rechtlichen Regelungen daher nicht als gleichwertig angesehen werden, so dass die Regelung des Ausweisungsschutzes, die für Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 gilt, nicht entsprechend angewandt werden kann, um die Bedeutung und die Tragweite von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu bestimmen.

75 Vor diesem Hintergrund erfordert eine sachdienliche Antwort an das vorlegende Gericht weiter, dass ihm bestimmte Auslegungshinweise bezüglich der konkreten Tragweite von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Rahmen eines Rechtsstreits wie des bei ihm anhängigen an die Hand gegeben werden.

76 Wie bereits in den Randnrn. 52, 58 und 59 des vorliegenden Urteils festgestellt, hat der Gerichtshof zur Bestimmung der Bedeutung und der Tragweite dieser Vorschrift des Beschlusses Nr. 1/80 traditionell auf die in der Richtlinie 64/221 festgeschriebenen Grundsätze abgestellt.

77 Diese Richtlinie wurde jedoch durch die Richtlinie 2004/38 aufgehoben, nach deren Art. 38 Abs. 3 Bezugnahmen auf die aufgehobenen Richtlinien als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2004/38 gelten.

78 In einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens, in dem die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38 nicht entsprechend anwendbar ist (siehe Randnr. 74 des vorliegenden Urteils), ist aber für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ein anderer unionsrechtlicher Bezugsrahmen zu bestimmen.

79 Für einen Ausländer wie Herrn Ziebell, der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, wird dieser Bezugsrahmen mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht EWG–Türkei durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen.

80 Nach dieser Vorschrift kann ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen. Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

81 Darüber hinaus ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ausnahme der öffentlichen Ordnung im Bereich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Union, wie sie durch den Vertrag vorgesehen und im Rahmen der Assoziation EWG–Türkei entsprechend anwendbar ist, dass diese Ausnahme eine Abweichung von der genannten Grundfreiheit darstellt, die eng auszulegen ist und deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. u.a. Urteil vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82 Entsprechend können Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, Randnrn. 57 bis 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

83 Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Urteil vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, Randnr. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn der Umstand, dass mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, somit für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ableitet (vgl. Urteil Polat, Randnr. 36), muss das Gleiche erst recht für eine Rechtfertigung gelten, die auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.

84 Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist auch darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer gegen einen türkischen Staatsangehörigen verfügten Ausweisungsmaßnahme nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen haben, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (vgl. u. a. Urteil vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Randnr. 47).

85 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 bis 65 seiner Schlussanträge festgestellt hat, muss das vorlegende Gericht daher anhand der gegenwärtigen Situation von Herrn Ziebell die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen tatsächlich vorliegende Integrationsfaktoren abwägen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei hat das Gericht insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, indem es sämtliche konkreten Umstände angemessen berücksichtigt, die für seine Situation kennzeichnend sind und zu denen nicht nur die in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Gesichtspunkte zählen (vgl. Randnr. 39 des vorliegenden Urteils), sondern auch die besonders engen Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren ist, rechtmäßig während eines ununterbrochenen Zeitraums von mehr als 35 Jahren gelebt hat, inzwischen die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen geschlossen hat und in einem Arbeitsverhältnis steht. [...]