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LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.10.2011 - L 20 AY 114/10 - asyl.net: M19281
https://www.asyl.net/rsdb/M19281
Leitsatz:

1) Eine nach § 44 SGB X rückwirkende Gewährung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG kommt nicht in Betracht, wenn die Bedürftigkeit für Leistungen nach dem AsylbLG bzw. für Leistungen nach einem grundsicherungsrechtlichen Leistungsregime zwischenzeitlich temporär oder auf Dauer weggefallen ist.

2) Dies gilt auch dann, wenn Bedürftigkeit nach dem AsylbLG bzw. dem einschlägigen grundsicherungsrechtlichen Leistungsregime (hier: SGB II) nur deshalb nicht vorliegt, weil eine andere Sozialleistung, deren Gewährung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen und damit an ihre Bedürftigkeit (im weiteren Sinne) anknüpft (hier: Kinderzuschlag nach § 6a BKGG) bezogen wird.

3. Die Leistungssysteme des SGB II und des SGB XII haben (neben dem AsylbLG) die Funktion, für den von ihnen erfassten Personenkreis abschließend und insgesamt lückenlos das Niveau des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG zu sichern. Damit bestimmen sie zugleich die Grenze, oberhalb derer Bedürftigkeit grundsätzlich nicht mehr besteht.

4) Ist diese Obergrenze überschritten, scheidet eine Nachzahlung nach § 2 AsylbLG i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X aus.

Schlagwörter: Nachzahlung, Sozialhilfenachzahlung, Asylbewerberleistungsgesetz, Analogleistungen, Aufenthaltsdauer, Wegfall der Bedürftgkeit, Aktualitätsprinzip, Leistungsgewährung für die Vergangenheit, Gegenwärtigkeitsprinzip, Notlage, Kinderzuschlag
Normen: AsylbLG § 2, AsylbLG § 3, SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, AsylbLG § 2
Auszüge:

[...]

Im Oktober 2008 flossen neben dem Nettoerwerbseinkommen des Klägers zu 1 (für September) i.H.v. 1.343,02 EUR das Kindergeld für die Kläger zu 3 - 5 (462,00 EUR) sowie der Kinderzuschlag für Oktober (340,00 EUR) und für September (294,00 EUR) auf dem Konto des Klägers zu 1 zu. Das Erwerbseinkommen ist nach Maßgabe des § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II (100,00 EUR) sowie § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II (210,00 EUR) noch um insgesamt 310,00 EUR zu bereinigen, so dass ein anzurechnendes Erwerbseinkommen von 1.033,02 EUR verbleibt. Insgesamt belaufen sich damit im Oktober 2008 die dem Gesamtbedarf nach dem SGB II gegenüberzustellenden Einkünfte der Kläger auf 2.129,02 EUR.

Demensprechend war im Monat Oktober keiner der Kläger hilfebedürftig i.S.v. § 9 SGB II. Denn die anrechenbaren Gesamteinkünfte (2.129,02 EUR) überstiegen den (fiktiven) Gesamtbedarf (1.725,00 EUR) mit 404,02 EUR deutlich. Angesichts dieser erheblichen Bedarfsüberschreitung ist auch eine individualisierte Berechnung für die einzelnen Kläger entbehrlich. Gleiches würde im Übrigen für den Fall gelten, dass man (unter - nach Ansicht des Senats allerdings nicht zulässiger - Außerachtlassung des Zuflussprinzips bei Zuflüssen aus Sozialleistungen) die im Oktober 2008 verspätet erfolgte Auszahlung von Kindergeldzuschlag für den Monat September 2008 (294,00 EUR) außer Ansatz lassen könnte; denn selbst dann würde sich noch immer eine Bedarfsüberschreitung von (404,02./. 294,00 =) 110,02 EUR ergeben.

dd) Fehlte es jedenfalls im Oktober 2008 an der Hilfebedürftigkeit der Kläger i.S.v. § 9 SGB II, so ginge damit allein dann kein Nachzahlungen ausschließender Wegfall der Bedürftigkeit einher, wenn auch eine Berechtigung zum Bezug von Kinderzuschlag eine solche Wertung nicht zulassen würde.

Den Klägern ist zuzugeben, dass für eine solche Wertung die gesetzliche Zielsetzung des § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG herangezogen werden könnte; danach wird Kinderzuschlag gerade gezahlt, um eine Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II zu vermeiden. Ist es für einen Nachzahlungsanspruch nach § 2 AsylbLG in Anwendung von § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X unschädlich, wenn zwar das Leistungsregime des AsylbLG nicht mehr einschlägig ist, jedoch statt dessen Bedürftigkeit nach einem grundsicherungsrechtlichen Leistungsregime weiterhin und ununterbrochen fortbesteht (s.o. zu cc), so mag es auf den ersten Blick in der Tat nahe liegen, in Fällen, in denen allein durch Gewährung von Kinderzuschlag nach § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG das Leistungsregime des SGB II nicht Platz greift, weiterhin von einer vergleichbaren Situation auszugehen wie für den Fall einer grundsicherungsrechtlichen Leistungsnotwendigkeit.

In seinen bisherigen Entscheidungen (Urteil vom 23.5.2011 - L 20 AY 139/10, Rn. 34; Beschluss vom 28.1.2011 - L 20 AY 85/10 B, Rn. 8) hat der Senat diese Frage (nicht nur mit Blick auf den Bezug von Kinderzuschlag, sondern auch auf den Bezug von Wohngeld) offengelassen. Der vorliegende Fall macht jedoch deutlich, dass bei näherer Betrachtung eine Gleichstellung von Fällen des Bezuges von Kinderzuschlag mit solchen des Bezuges von Grundsicherungsleistungen bei der Frage einer rückwirkenden Erbringung von Leistungen nach § 2 AsylbLG in Anwendung von § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X nicht gerechtfertigt erscheint. Vielmehr hat sich die Frage nach einem Bedürftigkeitswegfall allein an einer (ggf. fiktiven) grundsicherungsrechtlichen Bedürftigkeitsprüfung - also an den Vorschriften des SGB II bzw. des SGB XII - mit den dort (im Vergleich zum AsylbLG bereits höhere Bedarfe berücksichtigenden) maximal anzuerkennenden, nachzahlungsunschädlichen Bedarfs- und Einkommenshöhen zu orientieren. Denn allein diese Leistungssysteme haben (wie auch das AsylbLG) die Funktion, für den von ihnen erfassten Personenkreis abschließend und insgesamt lückenlos das Niveau des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (sog. menschenwürdiges Existenzminimum) zu bestimmen. Bei der Erzielung von Einkünften oberhalb der sich aus ihnen ergebenden Bedarfsgrenzen ist eine Bedürftigkeit für Leistungen mit der Funktion der existenzsichernden Sozialhilfe grundsätzlich nicht mehr anzuerkennen. Wenn auch andere Sozialleistungen (hier der Kinderzuschlag nach § 6a BKGG) an eine Bedürftigkeit (in einem weiteren Sinne) anknüpfen, führt das zu keiner anderen Bewertung, sofern dieser andere Leistungsbezug jedenfalls zu einem Überschreiten der Bedarfsgrenze des menschenwürdigen Existenzminimums führt. Ohne eine solche Beschränkung auf Einkünfte maximal in Höhe eines grundsicherungsrechtlichen Leistungsregimes ergäben sich zudem Ungleichbehandlungen, die mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen wären. Dies zeigt der Fall der Kläger besonders deutlich. Denn hätte eine Familie aus fünf Personen unter ansonsten gleichen Umständen im Anschluss an den Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG ein den grundsicherungsrechtlichen Bedarf um mehr als 400,00 EUR überschreitendes Einkommen erzielt, welches nicht (teilweise) aus dem Bezug von Kinderzuschlag herrührte, wäre der Verlust eines Nachzahlungsanspruches nach § 2 AsylbLG i.V.m. § 44 SGB X unter dem Gesichtspunkt des Bedürftigkeitswegfalls von vornherein unfraglich. Für eine Besserstellung der Kläger allein unter dem Gesichtspunkt des grundsicherungsvermeidenden Bezuges von Kinderzuschlag nach § 6 BKGG ist – bei gleich hoher Überschreitung des grundsicherungsrechtlichen Bedürftigkeitsniveaus – kein Grund ersichtlich. Eine Orientierung einzig an einem Bedürftigkeitsniveau nach den Grundsicherungsregimes des SGB II oder SGB XII liegt überdies aus Praktikabilitätserwägungen nahe. Auch die Rechtsprechung des BSG zum Bedürftigkeitswegfall nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ist erkennbar von der Erwägung getragen, für in der Regel längere und zumeist einige Jahre zurückliegende Leistungsverhältnisse ein eher formales, an Praktikabilitätserwägungen orientiertes Abgrenzungskriterium zu liefern. Diese Erwägung zeigt sich bereits darin, dass es auf die Dauer des Bedürftigkeitswegfalles nicht ankommen soll und bereits eine nur kurzzeitige Unterbrechung im grundsicherungsrechtlichen Leistungsbedarf zu einem Wegfall des Nachzahlungsanspruches führt (vgl. BSG, Urteil vom 9.6.2011 – B 8 AY 1/10 R, Rn. 20). Die Orientierung an Praktikabilitätserwägungen erscheint mit Blick auf die Erfordernisse einer handhabbaren Leistungsverwaltung auch aus Sicht des Senats zulässig; denn immerhin haben die betroffenen Leistungsbezieher es unterlassen, die ursprünglichen, rechtswidrigen Leistungsbescheide anzufechten.

c) Haben die Kläger wegen eines zumindest für Oktober 2008 feststellbaren Bedürftigkeitswegfalls von vornherein keinen Nachzahlungsanspruch nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X, so ist unerheblich, dass die Beklagte zu den mit den angefochtenen Bescheiden vorgenommenen Nachzahlungsabschlägen nicht berechtigt gewesen wäre, wäre die Bedürftigkeit nicht entfallen (dazu BSG, Urteil vom 9.6.2011 - B 8 AY 1/10 R; vorgehend Urteil des Senats vom 17.5.2010 - L 20 AY 10/10). Denn wegen des Bedürftigkeitswegfalls wäre die Beklagte nicht einmal zu der mit den angefochtenen Bescheiden bewilligten Nachzahlung verpflichtet gewesen; insoweit sind die Kläger selbstredend nicht beschwert. [...]