LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 13.12.2011 - L 4 AY 10/11 B ER - asyl.net: M19291
https://www.asyl.net/rsdb/M19291
Leitsatz:

Die mögliche Verfassungswidrigkeit von § 3 AsylbLG rechtfertigt keine einstweilige Anordnung. Die Gewährung höherer Leistungen bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Analogleistungen, Sozialstaatsprinzip, Verfassungsmäßigkeit, Verfassungswidrigkeit, Normenkontrollverfahren, Existenzminimum,
Normen: AsylbLG § 2, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Zutreffend hat das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss das Bestehen eines Anordnungsanspruchs verneint. [...]

Für das im Wege der einstweiligen Anordnung verfolgte Begehren der Antragsteller auf "Leistungen in Höhe der Sätze des SGB II bzw. des SGB XII", besteht keine rechtliche Grundlage.

Zunächst haben die Antragsteller, die gegenwärtig laufende Leistungen nach dem AsylbLG im Sinne der Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG beziehen, keinen Anspruch auf die höheren sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Denn die Antragssteller sind erst 2011 in die Bundesrepublik eingereist. Sie sind im Besitz von Duldungen und gehören damit zu dem nach dem AsylbLG leistungsberechtigten Personenkreis (vgl. § 1 Nr. 4 AsylbLG). In Anbetracht des kurzen Zeitraums des Bezugs von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG ist die nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erforderliche Vorbezugszeit von 48 Monaten nicht erfüllt. Diese Regelung begegnet im Übrigen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss BVerfG vom 30. Oktober 2010 - 1 BvR 2037/10 -; ferner Bundesssozialgericht <BSG> BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. [...]

Soweit die Antragsteller ihr Begehren auf höhere Leistungen im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit verfassungsrechtlichen Erwägungen, gestützt auf Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, begründen, vermag dies einen Anordnungsanspruch nicht zu begründen.

Die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG steht nicht erst seit dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - (BVerfGE 125, 175) zur Diskussion (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. April 2010 - L 7 AY 3482/09 B - InfAuslR 2010, 307 = info also 2010, 180 m. Anm. Armborst/Berlit <jeweils m.w.N.>). Hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 3 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 bis 3, Satz 3 AsyIbLG mit dem GG sind beim BVerfG mittlerweile auch zwei Normenkontrollverfahren (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) aufgrund von Vorlagebeschlüssen des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. Juli 2010 (L 20 AY 13/09) und vom 22. No-vember 2010 (L 20 AY 1/09) anhängig.

Die mögliche Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 2 AsylbLG rechtfertigt die erstrebte einstweilige Anordnung jedoch nicht. Denn den Gerichten ist es nicht gestattet, den zuständigen Träger allein auf der Grundlage von Verfassungsrecht, hier also des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG), zur Leistungsgewährung zu verpflichten. Die Konkretisierung dieses Grundrechts, das als Geldleistungsanspruch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für öffentliche Haushalte verbunden ist, ist vielmehr ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten; wie er den Umfang der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums durch Geld-, Sach- und Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen (vgl. BVerfGE 125, 175 <Rdnr. 138>; BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2010 a.a.O. <Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde gegen u.a. den Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. Juni 2010 - L 20 AY 4/10 B ER ->). Der Senat ist deshalb nicht befugt, den Antragstellern unmittelbar gestützt auf Normen der Verfassung die im einstweiligen Rechtsschutz erstrebten höheren Leistungen zuzusprechen (vgl. nochmals BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2010 a.a.O.; so auch die - soweit ersichtlich - ständige obergerichtliche Rechtsprechung; vgl. nur LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - L 7 AY 3998/11 ER-B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 23. September 2010 - L 20 AY 69/10 B ER - und 10. Januar 2011 - L 20 AY 178/10 B ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 18. April 2011 - L 15 AY 5/11 B ER - und 19. April 2011 - L 23 AY 7/11 B ER u.a. - <alle juris>; a.A. SG Mannheim Beschluss vom 10. August 2011 - S 9 AY 2678/11).

Ebenso ist der Senat nicht berechtigt, höhere Leistungen "ersatzweise" gem. § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG festzusetzen. Hiernach ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern und dem Bundesministerium der Finanzen berechtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Beträge nach § 3 Abs. 1 Satz 4 und Absatz 2 Satz 2 AsylbLG jeweils zum 1. Januar eines Jahres neu festzusetzen, wenn und soweit dies unter Berücksichtigung des tatsächlichen Lebenshaltungskosten zur Deckung des in Absatz 1 genannten Bedarfs erforderlich ist. Es handelt sich bei dieser Norm ersichtlich um eine Verordnungsermächtigung im Sinne von Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz (GG), von der der Verordnungsgeber - worauf die Antragsteller zutreffend hinweisen - bislang noch keinen Gebrauch gemacht haben. Adressat der Ermächtigung sind indes die genannten Bundesministerien, die ihrerseits auch nur mit Zustimmung des Bundesrates tätig werden dürfen, nicht die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Diesen steht zwar ein inzidentes Prüfungsrecht hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung zu (vgl. hierzu Maurer, Allg. Verwaltungsrecht, 17. Auflage 2009, § 13 RdNr. 18 ff.), die Gericht dürfen sich jedoch nicht über die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes hinwegsetzen und selbst rechtsetzend tätig werden.

Da eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wegen der hier nur möglichen vorläufigen Klärung sowie der gebotenen zeitnahen Entscheidung nicht in Betracht kommt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2010 a.a.O.), kann der Senat davon absehen, im Einzelnen auf die von den Antragstellern geltend gemachte Verletzung des Grundrechts auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch die Regelungen in § 3 Abs. 2 AsylbLG einzugehen. [...]