Auch niedrigschwellige regimefeindliche Aktivitäten wie gelegentliche Veröffentlichungen auf systemkritischen Internetplattformen und die Teilnahme an gegen das Assad-Regime in Syrien gerichtete Demonstrationen führen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Rückkehrgefährdung durch die Gefahr von Folter bei Rückkehr nach Syrien.
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Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger ist auf seinen Asylfolgeantrag hin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]
Der Vortrag des Klägers im Asylfolgeverfahren vor dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren bezüglich seiner politischen Aktivitäten im Bundesgebiet muss - unter Berücksichtigung der Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - das Bundesamt veranlassen, dass mit Bescheid vom 06.03.2000 abgeschlossene Asylverfahren im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wiederaufzugreifen und insoweit eine Feststellung zugunsten des Klägers zu treffen. Es kann dahinstehen, ob sich die Sachlage - wie mit dem Asylfolgeantrag vorgetragen - dadurch geändert hat, dass infolge des deutsch-syrischen Rückführungsabkommens jetzt Abschiebungen Staatenloser, die früher in Syrien gelebt haben, möglich sind. Die im Sinne von § 51 Abs. 1 VwVfG veränderte Sachlage besteht darin, dass sich die politischen Verhältnisse in Syrien geändert haben mit der Folge, dass - anders als noch im Jahre 2000 - auch niedrigschwellige regimefeindliche Aktivitäten wie gelegentliche Veröffentlichungen auf systemkritischen Internet-Plattformen und die Teilnahme an gegen das Assad-Regime in Syrien gerichteten Demonstrationen die Aufmerksamkeit syrischer Geheimdienste auf sich lenken. Über diese seine Aktivitäten hat der Kläger jeweils das Bundesamt bzw. das erkennende Gericht zeitnah unterrichtet.
Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach einer Rückkehr nach Syrien gefoltert werden. Es entspricht ständiger Auskunftslage, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden, wobei sich diese Befragung über mehrere Stunden hinziehen kann (vgl. zuletzt: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010). Insgesamt häufen sich die Angaben über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen, wobei ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennbar ist. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Syrer als auch andere Personen, wobei es während der Haftzeit häufig zu körperlichen und psychischen Misshandlungen kommt. Das Gericht nimmt Bezug auf die allgemein zugänglichen Erkenntnismittel, die das Verwaltungsgericht Stuttgart in dem Urteil vom 06.05.2011 (A 7 K 510/09) benannt und ausgewertet hat.
Die Gefährdungslage hat sich nach Rücküberstellungen nach Syrien zur Überzeugung des Gerichts infolge der dortigen aktuellen politischen Ereignisse weiter verschärft. Seit dem Ausbruch der Massenproteste in Daraa im April 2011 gehen die syrischen Sicherheitskräfte mit allen Mitteln gegen tatsächliche und vermeintliche Feinde des Regimes von Präsident Assad vor. Seit Mai 2011 ist die Lage weiter eskaliert (siehe etwa die folgenden Presseberichte: "Tage des Schreckens in Syrien", FAZ vom 08.06.2011; "Sie können uns umbringen, aber nicht stoppen", Die Welt vom 14.06.2011; "Gewalt in Syrien hält an", NZZ vom 04.07.2011; "Erst verletzt, dann gefoltert", taz vom 07.07.2011 und "In der Gewalt des syrischen Systems", taz vom 18.07.2011). Das Göttinger Tageblatt berichtet in der Ausgabe vom 31.08.2011 über eine Verlautbarung von amnesty international (www.amnesty.de), in der von 88 männlichen Toten seit Beginn der Demonstrationen im Frühjahr 2011 gesprochen wird, wobei die Leichen Verletzungen durch stumpfe Gewalt, Zeichen von Peitschenschlägen und Schnittwunden sowie Verbrennungen von Zigaretten und verstümmelte Genitalien aufgewiesen hätten. Der November 2011 war nach Angaben der Vereinten Nationen der bisher "blutigste" Monat (vgl. "Aufstand gegen Assad - Dutzende Menschen in Syrien getötet" - Spiegel-Online vom 15.11.2011). Die Organisation Human Rights Watch geht davon aus, dass seit April 2011 mindestens 5000 Aufständische umgekommen sind. An ein Ende der blutigen Auseinandersetzungen ist nicht zu denken, der syrische Präsident Assad hat bisher alle Mahnungen und Warnungen westlicher Länder und der arabischen Liga in den Wind geschlagen. [...]