OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 14.11.2011 - 2 A 79/10.A - asyl.net: M19305
https://www.asyl.net/rsdb/M19305
Leitsatz:

Es liegt ein Gehörsverstoß vor, wenn das erkennende Gericht ärztliche Stellungnahmen bezüglich des späten Vorbringens einer PTBS nicht berücksichtigt und davon ausgeht, dass die Erkrankung im Asylerstverfahren hätte geltend gemacht werden müssen.

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Verletzung rechtlichen Gehörs, Abschiebungsverbot, Posttraumatische Belastungsstörung, Asylerstverfahren
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 7, GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Berufung der Klägerin zu 2, ist wegen Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen, soweit das Verwaltungsgericht ihre Klage auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG abgewiesen hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet der Anspruch auf rechtliches. Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die vom Fachgericht zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnis und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG, B. v. 29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 - = BVerfGE 65, 305 m.w.N.). Das rechtliche Gehör bezieht sich auch auf Rechtsfragen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Ein Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs liegt jedoch vor, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles ergibt, dass das Gericht seine Pflicht, den Vortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht beachtet hat (vgl. BVerfG, B. v. 27.05.2009 - 1 BvR 512/09 - m.w.N.). Das ist z.B. der Fall, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die von zentraler Bedeutung für das Verfahren ist, nicht eingeht (BVerfG, B. v. 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 - = BVerfGE 86, 133, 144, 146).

So liegt es hier.

Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil festgestellt, die Klägerin zu 2. könne sich auf ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen einer psychischen Erkrankung und einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nicht berufen. Eine PTBS hätte die Klägerin bereits im Asylerstverfahren, das durch Urteil vom 30.06.2004 abgeschlossen worden sei, geltend machen müssen. Auch in der mündlichen Verhandlung am 24.09.2009 habe die Klägerin nicht. nachvollziehbar dargelegt, weshalb sie ohne Verschulden gehindert gewesen sei, eine solche Erkrankung im ersten Asylverfahren geltend zu machen (vgl. Seite 17 des VG-Urteils).

Demgegenüber hat die Klägerin zu 2. eine nervenärztliche Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie ... vom 29.03.2007 (Blatt 111 GA) und eine amtsärztliche Stellungnahme der Ärzte ... und ... vom Klinikum Bremen-Nord vom 08.11.2007 (Blatt 291 GA) vorgelegt, die Erklärungen zur Frage enthalten, warum die Klägerin zu 2. zur PTBS so spät vorgetragen hat. Auf diese Erklärungen in den fachärztlichen Gutachten, die zum wesentlichen Kern des Vortrags der Klägerin zu 2. gehören, ist das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil nicht eingegangen. Dazu hätte um so mehr Anlass bestanden, als der Einzelrichter der 2. Kammer des Verwaltungsgerichts, der vor der entscheidenden Einzelrichterin mit dem Fall der Kläger befasst war, in die Sitzungsniederschrift vom 14.05.2009 aufgenommen hatte: "... sowohl die nervenärztliche Stellungnahme von Herrn ... vom 29.03.2007 sowie die amtsärztliche Stellungnahme der Gesundheit Nord (Dr. ...) vom 08.11.2007 ... erklären, wieso die Klägerin zu diesem Zeitpunkt in einer früheren Zeit keine Aussagen machen konnte, da sie traumatisiert war. Damit überein stimmt auch das vom Gericht eingeholte psychologische Gutachten von Frau ... vom 31.10.2008 ...".

Auch soweit das Verwaltungsgericht das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung - entgegen der Annahme in den fachärztlichen Stellungnahmen vom 29.03.2007 und 08.01.2007 - verneint hat, lässt sich den Entscheidungsgründen nicht entnehmen, dass es sich mit diesen Stellungnahmen inhaltlich auseinandergesetzt hat. [...]