OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 21.12.2011 - 1 B 246/11 - asyl.net: M19319
https://www.asyl.net/rsdb/M19319
Leitsatz:

Ehegattennachzug: Den Ehegatten ist in der Regel nur eine vorübergehende Trennung zumutbar. Die Ausländerbehörde hat durch die Erteilung einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV dafür Sorge zu tragen, dass das Visumsverfahren nicht länger als erforderlich dauert.

Schlagwörter: Ehegattennachzug, Visumsverfahren, übliche Dauer, Vorabzustimmung
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 30 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthV § 31 Nr. 3, AufenthV § 39 Nr. 6, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

1. Im Falle des Ehegattennachzugs ist es der Ausländerbehörde, auch wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorliegen, nicht grundsätzlich verwehrt, den nachzugspflichtigen Ehegatten auf die Durchführung eines Visumverfahrens zu verweisen (st. Rspr.).

2. Zumutbar ist den Eheleuten in diesem Fall jedoch nur eine vorübergehende Trennung. Die Ausländerbehörde hat durch die Erteilung einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV dafür Sorge zu tragen, dass das Visumverfahren nicht länger als erforderlich dauert.

3. Gelangt das Verwaltungsgericht in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug erfüllt sind, verneint die Ausländerbehörde aber weiterhin dessen Vorliegen, droht den Eheleuten im Falle der Durchführung eines Visumverfahrens eine längerfristige Trennung. In diesem Fall überwiegt im Rahmen der Abwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO das Aussetzungsinteresse des nachzugswilligen Ehegatten.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

4. Ein Ausländer, der nicht aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Regelung die Aufenthaltserlaubnis vom Inland aus einholen kann, ist grundsätzlich verpflichtet, vom Ausland aus ein Visumverfahren durchzuführen (vgl. §§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 6 Abs. 4 S. 1 AufenthG).

Gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG kann die Ausländerbehörde jedoch nach pflichtgemäßem Ermessen von der Durchführung eines Visumverfahrens absehen, wenn die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind. Da die Antragstellerin, wie dargelegt, - inzwischen - die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt, steht es im Ermessen der Antragsgegnerin, ob sie auf der Durchführung eines Sichtvermerksverfahrens besteht. Dieses Ermessen hat die Antragsgegnerin bislang nicht fehlerfrei ausgeübt.

Es läuft dem Zweck der Ermächtigung des § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG nicht zuwider, wenn die Ausländerbehörde sich bei ihrer Ermessensausübung davon leiten lässt, dass es - ungeachtet des Vorliegens eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - einem nachzugswilligen Ehegatten grundsätzlich zumutbar ist, das Visumverfahren zu durchlaufen (BVerfG, B. v. 14.12.2007 - 2 BvR 2341/06 - InfAuslR 2008, 239). Das Visumverfahren ist ein Steuerungsinstrument der Zuwanderung, dessen Beachtung die Ausländerbehörde auch in Bezug auf den Ehegattennachzug verlangen kann. Der Umstand, dass die Eheleute in diesem Fall eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, verstößt nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. Andererseits bildet die normale Dauer des Visumverfahrens aber auch die maßgebliche Grenze für die hinzunehmende Trennungszeit (vgl. BVerfG, B. v. 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347; BVerwG, U. v. 11.01.2011 - 1 C 23/09 - NVwZ 2011, 871, Rn. 34). Das bedeutet, dass die Ausländerbehörde dessen voraussichtliche Dauer in die Ermessenserwägungen einzubeziehen hat. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Trennungszeit die normale Dauer eines Visumverfahrens überschreiten würde, ist dies im Rahmen der Ermessensausübung zu Gunsten des Ehegatten zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Ausländerbehörde selbst auf die Dauer des Visumverfahrens Einfluss nehmen kann. Denn die Erteilung des Visums ist nach § 31 AufenthV von ihrer Zustimmung abhängig. Besteht sie im Rahmen von § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG auf der Durchführung eines Visumverfahrens, hat sie regelmäßig durch Erteilung einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV dafür Sorge zu tragen, dass die Trennungszeit nicht länger als erforderlich dauert (OVG Bremen, B. v. 26.04.2010 - 1 B 50/10 - InfAuslR 2010, 292 295>; B. v. 12.08.2011 - 1 B 150/11 - InfAuslR 2011, 436 438>).

Im Ablehnungsbescheid vom 13.04.2011 wird zwar eine Ermessensentscheidung getroffen, diese ist aber nicht fehlerfrei. Die Antragsgegnerin hat bereits verkannt, dass ihr ein Ermessen nach § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG eröffnet ist. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor.

Da aus der Sicht der Antragsgegnerin die tatbestandliche Voraussetzung des § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG nicht erfüllt ist, d.h. ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht gegeben ist, hat sie darauf verzichtet, die nach dieser Vorschrift gebotene Ermessensentscheidung zu treffen. Dementsprechend finden sich in dem Ablehnungsbescheid keine Erwägungen zur wahrscheinlichen Dauer des Sichtvermerksverfahrens und der damit verbundenen Trennungszeit der Eheleute. Erst recht wird der Frage einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV nicht nachgegangen. Dass die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin damit defizitär sind, liegt auf der Hand.

5. Mit Rücksicht auf diese fehlerhafte Ermessensentscheidung überwiegt das Interesse der Antragstellerin, einstweilen von der Durchsetzung der Verfügung vom 13.04.2011 verschont zu bleiben, das gegenläufige öffentliche Vollziehungsinteresse. Es ist derzeit nicht gewährleistet, dass die Antragstellerin im Falle der Durchführung eines Visumverfahrens nur vorübergehend für die übliche Dauer eines solchen Verfahrens von ihrem Ehemann getrennt wäre. Vielmehr müsste damit gerechnet werden, dass sie aufgrund des von der Antragsgegnerin eingenommenen Standpunkts das Visum nur im Rahmen eines vom Ausland aus geführten Rechtsstreits erlangen könnte. Ob insoweit, wie der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin vorträgt, allein für das erstinstanzliche Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin eine Verfahrensdauer von 18 bis 24 Monaten zu veranschlagen wäre, mag hier dahinstehen. In jedem Fall würde dadurch die übliche Dauer eines Visumverfahrens deutlich überschritten werden. Es ist deshalb geboten, für die Dauer des Hauptsacheverfahrens die sofortige Vollziehung der Versagung der Aufenthaltserlaubnis auszusetzen. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, der Antragstellerin eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG auszustellen (OVG Bremen, B. v. 17.09.2010 - 1 B 140/10 - InfAuslR 2011, 1418>). [...]