OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.09.2011 - 11 PA 298/11 - asyl.net: M19326
https://www.asyl.net/rsdb/M19326
Leitsatz:

Über das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft, mit dem der Vorrang des staatlichen Strafverfolgungsinteresses gegenüber dem ausländerbehördlichen Interesse an der Durchsetzung einer bestehenden Ausreisepflicht des Ausländers gesichert werden soll (BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10 -), setzt sich die Ausländerbehörde nicht hinweg, wenn sie trotz eines schwebenden strafgerichtlichen Verfahrens gegen den Ausländer eine Abschiebungsandrohung ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erlässt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Abschiebungsandrohung, Strafverfolgungsinteresse, Strafverfolgung, Interesse der Strafverfolgungsbehörde, Strafverfahren, Strafverfolgungsbehörde, Ausreisepflicht, vollziehbar ausreisepflichtig,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die im Streit befindliche Abschiebungsandrohung dar Beklagten wird sich voraussichtlich rechtmäßig erweisen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Der im Beschwerdeverfahren wiederholte Einwand, der Rechtmäßigkeit der Verfügung der Beklagten stehe entgegen, dass die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen zur Abschiebung des Klägers nicht erteilt habe, greift nicht durch. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen oder abgeschoben werden. Diese Vorschrift, die der Staatsanwaltschaft eine Entscheidung darüber ermöglichen will, ob der staatliche Strafanspruch durchgesetzt werden soll, dient allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses. Sie bezweckt nicht, den Ausländer vor ausländerbehördlichen Maßnahmen zu bewahren (BVerwG, Urt. v. 5.5.1998 - 1 C 17.97 -, BVerwGE 106, 351). § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG steht deshalb dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2011, § 72 AufenthG, Rn. 18 und 14; A.A. Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 72 AufenthG Rn. 19). Daraus folgt, dass die Rechtmäßigkeit der Verfügung der Beklagten vom 23. November 2010, die zu einem Zeitpunkt erging, als gegen den Kläger ein strafgerichtliches Verfahren schwebte, nicht wegen des bisher nicht eingeholten Einvernehmens der Staatsanwaltschaft zweifelhaft ist.

Die von dem Kläger angenommene Unvereinbarkeit zwischen der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der denkbare günstige Wirkungen einer Erteilung oder Versagung des Einvernehmens durch die Staatsanwaltschaft dem betroffenen Ausländer nur reflexartig zugute kommen, und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu § 72 Abs. 4 AufenthG, nach der der Ausländer in seinen Rechten verletzt sein kann, wenn gegen ihn ohne Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet wird (vgl. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 189/10 -, juris, Rn. 5), besteht nicht. Nach Auffassung des BGH (vgl. Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10 -, NVwZ 2011, 767) hat das von der Staatsanwaltschaft wahrzunehmende Interesse an der Verfolgung einer von dem Ausländer begangenen Straftat grundsätzlich Vorrang vor dem von den Ausländerbehörden zu wahrenden Interesse an der Durchsetzung der Ausreisepflicht des sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Dieser Vorrang soll durch das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft mit der Ausweisung oder Abschiebung des Ausländers gesichert werden. Darüber setzt sich die Ausländerbehörde nicht hinweg, wenn sie - wie hier - eine Abschiebungsandrohung erlässt. Abschiebungsandrohung und Vollzug der Abschiebung sind zu trennen (vgl. auch § 59 Abs. 3 AufenthG). Dem Interesse der Strafverfolgungsbehörde - und auch des betroffenen Ausländers - kann deshalb ausreichend dadurch Rechnung getragen werden, dass die Abschiebung als Vollstreckungsakt nicht ohne Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vollzogen wird. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bezieht das Einvernehmen ausdrücklich auf die Abschiebung selbst, nicht aber auf die insoweit vorgeschaltete Abschiebungsandrohung. [...]