VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2011 - 6 K 7648/10.A - asyl.net: M19356
https://www.asyl.net/rsdb/M19356
Leitsatz:

Oppositionelle Tätigkeiten wie die Teilnahme an Versammlungen, Demonstrationen und das Verteilen von Flugblättern für eine äthiopische Exilorganistation (TBOJ/UOSG) führen bei einem Oromo, der bereits in Addis Abeba als Student durch regierungskritische Äußerungen aufgefallen ist, zu einer beachtlich wahrscheinlichen Rückkehrgefahr.

Schlagwörter: Asylanerkennung, Nachfluchtgründe, exilpolitisches Engagement, Äthiopien, Oromo
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, AsylVfG § 28 Abs. 1, AsylVfG § 31 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

b) Nach diesen Grundsätzen besteht nach dem hier zugrunde zu legenden Prognosemaßstab eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger, wenn er nach Äthiopien zurückkehren würde, wegen seiner politischen Überzeugung staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre.

Es kann dahinstehen, ob das vom Kläger dargelegte Vorfluchtgeschehen - Drohanrufe und dadurch hervorgerufene Todesangst - tatsächlich von einer asylrelevanten Intensität war. Denn jedenfalls ist ihm als Oromo wegen seiner exilpolitischen Betätigung in der TBOJ/UOSG eine Rückkehr nach Äthiopien nicht zumutbar.

aa) Die exilpolitische Betätigung stellt sich als Ausdruck und Fortführung der bereits im Heimatland erkennbar zutage getretenen oppositionellen Überzeugung des Klägers dar (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 2. HS AsylVfG). Der Kläger, der nach seinem Vortrag und ausweislich der Mitgliedsbescheinigung der TBOJ/UGSG vom 23. Februar 2011 seit dem 20. März 2010 Mitglied dieser Vereinigung ist, war nach seinen insoweit glaubhaften Bekundungen in der mündlichen Verhandlung bereits in seinem Heimatland für die politische Opposition der Oromo tätig. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend und nachvollziehbar geschildert, wie er bereits zu Schulzeiten in Dembi Dollo als Schülersprecher Mitschüler zu politischen Demonstrationen ermuntert und auch während seines Studiums - als Studentenvertreter - in Addis Abeba oromische Kommilitonen geworben hat, um gemeinsam die legale Opposition (Medrek) zu unterstützen. Außerdem hat er sich einer Aufnahme in eine regierungsnahe Studentenorganisation widersetzt und sich - zum Teil unter Missbilligung seiner oromischen Kommilitonen - auf offiziellen politischen Diskussionen an der Universität regierungskritisch geäußert. Diese Haltung hat der Kläger schließlich durch seinem Entschluss, an einem Seminar in Ilmenau teilzunehmen, um dort auf die menschenrechtliche Situation in Äthiopien aufmerksam zu machen, eindrucksvoll belegt.

bb) Es ist auch anzunehmen, dass dem Kläger aufgrund seiner exilpolitischen Betätigung im Falle seiner Rückkehr politische Verfolgung droht. Es ist sowohl davon auszugehen, dass staatliche äthiopische Stellen Kenntnis von den oppositionellen Aktivitäten des Klägers erlangt haben (1), als auch davon, dass ihm wegen seines exilpolitischen Engagements als Oromo im Falle einer Rückkehr staatliche Übergriffe von asylrechtlich erheblichem Gewicht drohen (2).

(1) Der Kläger ist nunmehr seit über eineinhalb Jahren Mitglied der TBOJ/UOSG. Er nimmt gemäß der Bescheinigung vom 23. Februar 2011 regelmäßig als beitragszahlendes Mitglied an den zumeist monatlich in Düsseldorf stattfindenden Versammlungen teil. Im Februar 2011 hat er sieh in München anlässlich des Besuchs des äthiopischen Premierministers in Deutschland an einer Demonstration beteiligt. Darüber hinaus verteilt der Kläger bei Veranstaltungen Flugblätter.

Es steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass es zu entsprechenden Aktivitäten des Klägers gekommen ist. Seine Tätigkeiten für die TBOJ/UOSG hat er anschaulich, widerspruchsfrei und ohne Tendenz zu Übertreibungen geschildert.

Die genannte Betätigung des Klägers ist zur Überzeugung des Einzelrichters auch staatlichen Stellen in Äthiopien bekannt. Die äthiopische Regierung lässt auf der Grundlage einer im Jahre 2006 von einem Oppositionsmitglied veröffentlichten "Direktive zum Aufbau einer Wählerschaft" exilpolitische Aktivitäten ihrer Staatsangehörigen intensiv beobachten. Betroffen sind nicht nur Unterstützer bestimmter Exilorganisationen und exponierte Exilpolitiker, sondern auch nicht organisierte Äthiopier, Sympathisanten und neutrale Personen, Vereine, regelmäßige Treffpunkte usw. Die Informationsbeschaffung erfolgt u.a. durch den Einsatz modernster nachrichtendienstlicher Methoden (Bespitzelung, Erstellung von Datenbanken) und zielt insbesondere auch auf die Aktivitäten (Organisationstreffen, Demonstrationen, Teilnahme an örtlichen und überörtlichen und überparteilichen oppositionellen Versammlungen) der TBOJ/UOSG ab (vgl. im Einzelnen OVG NRW Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 3806/05.A -, S. 18 ff. des Umdrucks; Schröder, Auskunft vom 11. Mai 2009 an das Verwaltungsgericht Köln, S. 62 (Nr. 205), Auskunft vom 8 August 2011, S. 15 (Nr. 43)).

Dass der Kläger Mitglied nur einer örtlichen Organisation ist, steht schon aufgrund der Überschaubarkeit der äthiopischen Exilgemeinden - im Falle der Düsseldorfer Gruppe etwa 15 Personen - einer nachrichtendienstlichen Registrierung nicht entgegen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, S. 14 f. des Umdrucks; Sehröder, Auskunft vom 4. Juni 2010 an das Verwaltungsgericht Kassel, S. 37 (Nr. 11)).

(2) Der Kläger ist wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten für die TBOJ/UOSG der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt.

Unter welchen Voraussetzungen ein exilpolitisches Engagement eine beachtliche Verfolgungsgefahr auslöst, insbesondere ob schon die schlichte Mitgliedschaft in einer exilpolitischen Organisation dazu ausreichen kann, wird in den vorliegenden Auskünften unterschiedlich eingeschätzt. Während das Auswärtige Amt und - ihm folgend - das Schweizerische Bundesamt für Migration eine Verfolgungsgefahr erst bei einer exponierten Tätigkeit für eine vom äthiopischen Staat als terroristisch eingestufte Organisation annimmt und ferner für bedeutsam hält, wie sich die Person nach ihrer Abschiebung in Äthiopien verhält, betont etwa der Gutachter Schröder die Unberechenbarkeit der willkürlich agierenden Sicherheitsbehörden und hält angesichts dessen bei der Beurteilung der Verfolgungswahrscheiniichkeit eine Differenzierung nach dem politischen Gewicht der Aktivitäten nicht für möglich (vgl. zu § 60 Abs. 1 AufenthG: OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06. A -, S. 17 f. des Umdrucks; Schröder, Auskunft vom 4. Juni 2010, S. 25 (Nr. 76 f.), S. 57 (Nr. 233).

Jedenfalls ist davon auszugehen, dass die Toleranzschwelle des äthiopischen Staates gegenüber exilpolitischen Aktivitäten seiner Staatsangehörigen sehr gering ist, so dass längst nicht nur medienwirksam exponierte Führungspersönlichkeiten der als terroristisch angesehenen illegalen Opposition bedroht sind, sondern auch ernsthafte Oppositionelle, die sich aus dem Kreis der Mitläufer erkennbar hervorheben (OVG NRVV, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, S. 20 des Umdrucks).

Im Rahmen der Gefährdungsprognose tritt erschwerend die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Oromo hinzu. Diese stehen generell unter dem Verdacht, der Opposition anzugehören. Die äthiopische Regierung misstraut prinzipiell den Angehörigen des Oromo-Volkes. Bereits der Verdacht einer Unterstützung der verbotenen, als terroristisch eingestuften und von der Regierung offen bekämpften Oromo Llberation Front - OLF - kann zu strafrechtlicher Verfolgung, aber auch zu weiteren Maßnahmen, wie etwa zur Entlassung durch staatliche Arbeitgeber und Einschüchterung von Familienangehörigen führen. Es wird auch von vorbeugenden Festnahmen von OLF-Sympathisanten berichtet, die häufig nach einigen Wochen mit einer Verwarnung entlassen werden, ohne dass ein Gericht mit ihrem Fall befasst worden ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16. Mai 2011, S. 10, 14; Schweizerisches Bundesamt für Migration vom 7. Januar 2010, Focus Äthiopien, Illegale Opposition, S. 5, 11).

Das gilt auch in Bezug auf oromische Volkszugehörige, die aus dem Ausland nach Äthiopien zurückkehren. Sie sind dem Generalverdacht ausgesetzt, den oromischen Befreiungskampf vom Ausland her zu unterstützen. Tauchen nach ihrer Rückkehr Verdachtsmomente - etwa die Mitgliedschaft in der der OLF nahe stehenden TBOJ/UOSG - auf, haben sie mit Festnahme und, um Informationen zu erlangen, mit schweren Misshandlungen zu rechnen. Häufig werden sie erst nach geraumer Zeit, wenn man annimmt, dass ihr Widerstandsgeist gebrochen ist, ohne Anklageerhebung freigelassen (vgl. amnesty international, Auskunft vom 9. April 2008 an das VG Köln; Schröder, Auskunft vom 11. Mai 2009 an das VG Köln, S. 62 f. (Nr. 201-205); GIGA Institut für Afrika-Studien. Auskunft an das VG Köln vom 24. April 2008, S. 3 f.).

Dies zugrunde gelegt ist eine Verfolgungsgefahr in Bezug auf den Kläger beachtlich wahrscheinlich. Die Tätigkeiten des Klägers im Rahmen der TBOJ/UOSG (Teilnahme an Versammlungen, Demonstrationen, Verteilen von Flugblättern), die den äthiopischen Behörden mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Kenntnis gelangt sind, die gesteigerten Aktivitäten des äthiopischen Staates gegen die von ihm in besonderem Maße bekämpfte OLF und die Tatsachen, dass der Kläger an der Universität von Addis Abeba als Student der politischen Wissenschaften mit regierungskritischen Äußerungen aufgefallen ist und sein Verschwinden den äthiopischen Behörden nicht verborgen geblieben sein dürfte, lassen ungeachtet der Frage, ob letzteres auch für die Seminarteilnahme in llmenau zutrifft, in dem hier vorliegenden Einzelfall insgesamt den Schluss zu, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Äthiopien voraussichtlich als Anhänger der illegalen Opposition eingestuft werden wird und ihm deshalb die Gefahr, ohne rechtsstaatliches Verfahren verhaftet, für ungewisse Zeit. festgehalten und misshandelt zu werden, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. [...]