OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.12.2011 - 3 B 17.10 - asyl.net: M19361
https://www.asyl.net/rsdb/M19361
Leitsatz:

Eine die Visumerteilung rechtfertigende außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor, wenn zwar der Wunsch nach (erstmaliger) Lebenshilfe durch einen Familienangehörigen im Bundesgebiet besteht, die Lebenshilfe aber auch durch Dritte im Herkunftsland geleistet werden kann.

Schlagwörter: Visum, außergewöhnliche Härte, Familiennachzug, sonstige Familienangehörige
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 4, AufenthG § 27 Abs. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

B. Die Berufung ist begründet.

Die Ablehnung der Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Sie hat keinen Anspruch auf Erteilung des Visums und auch keinen Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Bescheidung. Denn die Tatbestandsvoraussetzungen der allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind nicht erfüllt.

I. Anspruchsgrundlage für den Familiennachzug zu der Zeugin ... ist §§ 28 Abs. 4, 27 Abs. 1 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Hiernach kann sonstigen Familienangehörigen zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis - und damit auch ein Visum (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 6 Abs. 3 AufenthG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 [BGBl. I S. 162] nach Maßgabe des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 [BGBl. I S. 2258]) - erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.

II. Eine außergewöhnliche Härte ist im Fall der Klägerin nicht gegeben.

1. Der unbestimmte Rechtsbegriff der außergewöhnlichen Härte weist im Verhältnis zu demjenigen der besonderen Härte erhöhte Anforderungen auf. Die Besonderheiten des Einzelfalles müssen nach Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Folgen der Visumversagung unter Berücksichtigung des Zwecks der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, sowie des Schutzgebots des Art. 6 GG schlechthin unvertretbar sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997 - 1 B 236.96 -, Buchholz 402.240 § 22 AuslG 1990 Nr. 4 = juris Rn. 8 zur vergleichbaren Rechtslage nach dem AuslG; Hailbronner, AuslR, Stand April 2008, § 36 AufenthG Rn. 12). Der Zweck des Familiennachzugs, die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG), erfordert in aller Regel nicht den Nachzug von Volljährigen, denn sie benötigen grundsätzlich keine familiäre Lebenshilfe. Die Verbindung zu den im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen kann grundsätzlich auch auf andere Weise aufrecht erhalten und gepflegt werden. Soweit eine wirtschaftliche Unterstützung erforderlich sein sollte, kann diese in der Regel durch Geldüberweisungen ins Ausland erfolgen. Eine außergewöhnliche Härte setzt demgegenüber voraus, dass der im Ausland lebende volljährige Familienangehörige dort kein eigenständiges Leben mehr führen kann und die von ihm benötigte, tatsächlich und regelmäßig zu erbringende wesentliche familiäre Lebenshilfe zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Familie erbracht werden kann, die in diesem Fall im Kern die Funktion einer familiären Lebensgemeinschaft ausfüllt. Nur wenn die Zusammenführung gerade in Deutschland zwingend geboten ist, hat der Staat aus dem Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG die Pflicht, die Familie zu schützen und einwanderungspolitische Belange zurückzustellen. Umgekehrt liegt keine außergewöhnliche Härte vor, wenn die benötigte Lebenshilfe auch im Heimatstaat des Ausländers erbracht werden kann (vgl. zu allem BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895 = juris Abschnitt B.I.3.b; Beschluss vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, NVwZ 1996,1099 = juris Rn. 8; BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997, a.a.O., juris Rn. 8; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. März 2007 - 2 B 2.07 -, juris Rn. 23; Beschluss vom 23. August 2005 - OVG 12 N 10.05 -, juris Rn. 5; OVG Saarlouis, Beschluss vom 23. Juli 2009 - 2 B 377/09 -, juris Rn. 6; OVG Münster, Urteil vom 12. Februar 1992 - 17 A 134.91 -, InfAuslR 1993, 24, 25).

2. Die so beschriebenen Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Härte sind im Fall der Klägerin nicht erfüllt.

a) Die Klägerin hat nicht belegt, dass sie auf Lebenshilfe im Bundesgebiet durch die Zeugin ... angewiesen ist.

Es kann dahinstehen, welcher Art und Schwere ihre Erkrankungen sind. Selbst wenn insoweit ihre eigenen Angaben zugrunde gelegt werden, ist sie im Iran hinreichend von Freunden und Bekannten versorgt.

Hinsichtlich ihrer Betreuungssituation hat sie erstinstanzlich eingeräumt, ihr werde von zwei Frauen aus der Nachbarschaft geholfen. Die Zeugin ... hat bei ihrer Vernehmung vor dem Verwaltungsgericht darüber hinausgehend bekundet, dass mehrere Nachbarn, im Wesentlichen eine Armenierin aus dem Haus der Klägerin sowie eine weitere Armenierin aus derselben Straße, nach der Klägerin schauen, ihr helfen, einkaufen, Essen bringen oder zubereiten, soweit erforderlich beim An- oder Ausziehen helfen, Arzttermine organisieren und ein Taxi rufen. Bei ihrer Vernehmung vor dem Senat hat die Zeugin ... erneut und nachvollziehbar angegeben, die Klägerin habe Freunde und Bekannte, die sie unterstützten.

Hiernach kann im Iran mithilfe vielfältiger Unterstützungsmaßnahmen ausreichend auf den Gesundheitszustand der Klägerin reagiert werden; sie ist imstande, ihr Leben weiterhin dort zu führen. Zu den vorhandenen Unterstützungsmaßnahmen gehören sowohl die - nach ihrer zeugenschaftlichen Angabe wöchentlich erfolgenden - Anrufe der Zeugin ... als auch die Hilfe mehrerer Freunde und Bekannter, namentlich aus der Nachbarschaft, und die laut der Stellungnahme des Vertrauensarztes im Iran mögliche ärztliche Versorgung. Dies schließt eine außergewöhnliche Härte aus. Erforderlichenfalls kann die Zeugin ..., die zugunsten der Klägerin eine Verpflichtungserklärung abgegeben hat und, wie deren Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hervorgehoben hat, ein überdurchschnittliches Einkommen aufweist, zusätzlich finanzielle Unterstützung vom Bundesgebiet aus gewähren, mag die Klägerin diese bislang auch nicht annehmen wollen.

Soweit das Verwaltungsgericht die Auffassung vertreten hat, der Annahme einer außergewöhnlichen Härte stehe nicht entgegen, dass die Hilfe bereits von familienfremden Personen im Iran erbracht werden könne, ist dem nicht zu folgen. Das Verwaltungsgericht bezieht sich zur Stützung seiner Auffassung auf das OVG Saarlouis (a.a.O., juris Rn. 6; vgl. aber auch Rn. 9), das seinerseits auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1. August 1996 (2 BvR 1119/96, InfAuslR 1996, 341 = juris Rn. 5) Bezug nimmt. Dort setzt das Bundesverfassungsgericht indes voraus, dass die Lebenshilfe durch ein Familienmitglied tatsächlich (bereits im Bundesgebiet) erbracht wird (so auch die vom OVG Münster [Urteil vom 24. Februar 1999 - 17 A 139/97 -, InfAuslR 1999, 345 = juris Rn. 16] - ihm i.E. folgend Hailbronner, a.a.O., § 36 Rn. 29 - für seine Gegenansicht in Anspruch genommenen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Oktober 1995 [a.a.O., juris Rn. 8] sowie vom 14. Dezember 1989 [a.a.O., juris Abschnitt B.I.3.c.aa] einerseits und des VGH Mannheim vom 15. Februar 1995 - 11 S 2954/94 -, NVwZ-RR 1996, 115 = juris Rn. 9 andererseits). Demgegenüber erstrebt die Klägerin die - seit der Ausreise der Zeugin ... aus dem Iran vor 22 Jahren - erstmalige Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Mai 2011 - OVG 12 N 45.11 -, Beschlussabdruck S. 2 f.; Beschluss vom 23. August 2005 - OVG 12 N 10.05 -, juris Rn. 5).

b) Im Übrigen wäre die Zeugin ... zur Hilfeleistung für die Klägerin im Bundesgebiet nicht in hinreichendem Umfang imstande (vgl. hierzu OVG Saarlouis, Beschluss vom 23. Juli 2009, a.a.O., juris Rn. 11; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. November 2006 - 11 ME 197/06 -, InfAuslR 2007, 67 = juris Rn. 10).

Wenn § 36 Abs. 2 AufenthG voraussetzt, dass die familiäre Lebenshilfe zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden kann, bedeutet dies umgekehrt, dass es dem im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen möglich sein muss, die Lebenshilfe zu erbringen. Die Zeugin ... geht jedoch selbst einer Berufstätigkeit nach und kann sich in dieser Zeit nicht um die Klägerin kümmern. Laut Arbeitsvertrag vom 9. August 2010 arbeitet sie regelmäßig 38 Stunden in der Woche. Es bedarf keiner grundsätzlichen Klärung, in welchem Umfang der im Bundesgebiet lebende Familienangehörige zur Erbringung der Lebenshilfe imstande sein muss. Jedenfalls im Einzelfall hat die Zeugin ... bei ihrer Vernehmung durch den Senat eingeräumt, die Lebenshilfe solle in wesentlichen Teilen - lediglich - durch eine Bekannte geleistet werden, die nicht berufstätig sei. [...]