BlueSky

OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.12.2011 - 3 B 22.10 - asyl.net: M19364
https://www.asyl.net/rsdb/M19364
Leitsatz:

1. Gem. § 36 Abs. 1 AufenthG haben beide Eltern zusammen einen Anspruch auf Familienzusammenführung zu dem in Deutschland als Flüchtling anerkannten unbegleiteten Minderjährigen.

2. Es besteht kein Anspruch eines personensorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen Ausländers auf Erteilung eines Visums wegen des Aufenthalts des anderen personensorgeberchtigten Elternteils im Bundesgebiet, auch wenn das von beiden Elternteilen gemeinsam beantragte Visum zwar den Eltern zeitgleich hätte erteilt werden müssen, von der zuständigen Auslandsvertretung jedoch nur einem Elternteil die Einreise mit eine Visum ermöglicht wurde.

Schlagwörter: Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Nachzug der Eltern, Kindernachzug, Nachzug sonstiger Familienangehöriger; maßgeblicher Prüfungszeitpunkt, gemeinsame Antragstellung, Visumserteilung an einen Elternteil, Kindeswohl, Trennung der Eltern von minderjährigen Kindern, Folgenbeseitigungslast bei rechtswidriger Versagung, unzulässige Rechtsausübung, Befristung des Aufenthaltstitels, besondere Härte, außergewöhnliche Härte, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Fall
Normen: AufenthG § 36, AufenthG § 32 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 2
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin zu 1) hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums zum Familiennachzug. Die Voraussetzungen der allein in Betracht kommenden Regelungen des § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG, wonach den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, sind nicht erfüllt.

a) Der Anspruch der Klägerin zu 1) ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil sich der personensorgeberechtigte Vater des A, Herr H, seit März 2010 zumindest für ein Jahr im Bundesgebiet aufhielt.

Die tatbestandliche Voraussetzung des § 36 Abs. 1 AufenthG, dass sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, muss sowohl in dem Zeitpunkt, als A die Volljährigkeit erreichte, als auch im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung vor dem Senat vorliegen. Der Senat folgt insoweit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 -, juris Rn 10). Damit scheitert der Anspruch der Klägerin zu 1) daran, dass sich Herr H auf der Grundlage des ihm nach § 36 Abs. 1 AufenthG erteilten Visums jedenfalls bei Eintritt der Volljährigkeit des A am 1. Dezember 2010 im Bundesgebiet aufhielt. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob Herr H nach Ablauf der Gültigkeit seiner Aufenthaltserlaubnis dauerhaft ausgereist ist, um mit den Klägern in ihren Herkunftsort zu leben, und ob sich deshalb im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhielt.

Der Senat schließt sich der entgegenstehenden Ansicht des Verwaltungsgerichts, das den Aufenthalt des Herrn H in der Bundesrepublik als unerheblich erachtete, nicht an. Die negative Tatbestandsvoraussetzung, dass sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhalten darf, kann nach Auffassung des Senats nicht mit der Erwägung überwunden werden, dass der Klägerin zu 1) und Herrn H die gleichzeitig beantragten Visa auch gleichzeitig hätten erteilt werden müssen.

Zwar trifft es zu, dass den gemeinsam personensorgeberechtigten nachzugswilligen Eltern eines minderjährigen Flüchtlings der Anspruch aus § 36 Abs. 1 AufenthG gemeinsam zusteht, so dass jedenfalls dann, wenn - wie hier - der Antrag gleichzeitig gestellt wird, beiden Elternteilen (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) zeitgleich ein Visum zu erteilen ist. Die Erklärung der Beigeladenen zu 1), dass sie der Visumserteilung nur hinsichtlich eines Ehegatten zustimme, welche die Eltern vor die Alternative stellte, entweder auf die Betreuung des minderjährigen A zu verzichten oder sich zu trennen, und welche letztlich zur Versagung der Zustimmung zur Visumserteilung an die Klägerin zu 1) führte, war mithin rechtswidrig. Anders als die Beklagte und die Beigeladene meinen, ist das Wohl der bei gemeinsamem Nachzug zurückzulassenden (weiteren) Kinder der Eltern eines minderjährigen Flüchtlings weder bei der Entscheidung nach § 31 AufenthV noch bei der Entscheidung über den Visumsantrag zu berücksichtigen. § 36 Abs. 1 AufenthG ist auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahingehend auszulegen, dass der Nachzug jedenfalls dann auf einen (personensorgeberechtigten) Elternteil zu beschränken sei, wenn anderenfalls minderjährige Kinder im Herkunftsland oder einem Drittstaat ohne elterliche Obhut zurückblieben. Wie der Umkehrschluss aus der - im Übrigen auch auf die familiäre Situation abstellenden - Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zeigt, verbleibt es im Rahmen des § 36 Abs. 1 AufenthG bei dem unter Gesetzesvorbehalt stehenden Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2, 3 GG eine dem Kindewohl entsprechende Entscheidung zu treffen, wenn sie zwischen dem Verbleib bei ihren Kindern im Herkunftsland bzw. einem Drittstaat oder dem Nachzug zu einem ihrer Kinder in das Bundesgebiet wählen müssen. Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 7. April 2009 a.a.O. (juris Rn. 32) die - von der Beklagten in Kindernachzugsfällen regelmäßig vorgebrachte - Ansicht bestätigt, dass es eine autonome Lebensentscheidung der Eltern ist zu bestimmen, ob und, falls ja, von welchem ihrer Kinder sie sich räumlich trennen. Schließlich wäre die von der Beklagten angestrebte teleologische Reduktion auch nicht mit den Vorgaben der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. EU L 251/12 vom 3. Oktober 2003) - Familienzusammenführungsrichtlinie - vereinbar, die durch § 36 Abs. 1 AufenthG umgesetzt wurde. Nach Art. 10 Abs. 3 a) der Richtlinie und ihrem achten Erwägungsgrund sollen einem Flüchtling günstigere Bedingungen für die Ausübung seines Rechts auf Familienzusammenführung eingeräumt werden und ist der Nachzug zu

einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, also seinen Eltern, zwingend zu gestatten.

Die Klägerin zu 1) ist jedoch trotz der aufgezeigten Rechtswidrigkeit der Versagung der Zustimmung zur Visumserteilung nicht so zu stellen, als wäre ihr das beantragte Visum zeitgleich mit Herrn H erteilt und so die gemeinsame Einreise der Eltern des A in das Bundesgebiet ermöglicht worden. Der dieser Erwägung zugrunde liegende Rechtsgedanke der Folgenbeseitigung greift bei Ansprüchen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz grundsätzlich nicht ein. So ist beispielsweise die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann abzuweisen, wenn die Ausländerbehörde den Ablehnungsbescheid zu Unrecht auf eine fehlende Sicherung des Lebensunterhalts gestützt hatte, die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG indes im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz nicht mehr erfüllt ist. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen erscheint nicht geboten. Ein rechtswidriger Eingriff in Art. 6 Abs. 2, 3 GG, der Eltern zwingt, ihr minderjähriges Kind in der Bundesrepublik entweder ohne elterliche Obhut zu lassen oder es nur durch den Vater oder die Mutter zu betreuen, rechtfertigt für sich genommen nicht, von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Erfordernis einer auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogenen Doppelprüfung bei Ansprüchen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, die an eine im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung überschrittene Altersgrenze geknüpft sind, abzuweichen. Ebenso wenig erscheint ein Absehen von der negativen Tatbestandsvoraussetzung, dass sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhalten darf, unter dem Gesichtspunkt der Folgenbeseitigungslast oder des Grundsatzes von Treu und Glauben geboten. Denn die Grundrechtsverletzung erreicht nicht den erforderlichen Schweregrad, weil der minderjährige Flüchtling nicht zwangsläufig ohne jedwede elterliche Obhut bleibt, sondern die Möglichkeit besteht, dass ihn ein Elternteil in der Bundesrepublik betreut. Damit ist er zugleich nicht mehr "unbegleiteter Minderjähriger" i.S.d. Art. 10 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 f der Familienzusammenführungsrichtlinie.

b) Der Senat lässt jedoch die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch eines personensorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen Ausländers auf Erteilung eines Visums nach §§ 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. 36 Abs. 1 AufenthG auch für den Fall wegen des Aufenthalts des anderen personensorgeberechtigten Elternteils im Bundesgebiet zu verneinen ist, dass das von beiden Elternteilen gemeinsam beantragte Visum zwar den Eltern zeitgleich hätte erteilt werden müssen, von der zuständigen Auslandsvertretung jedoch nur einem Elternteil die Einreise mit einem Visum ermöglicht wurde.

Diese Frage ist auch entscheidungserheblich, weil der Klägerin zu 1) ein Anspruch auf Erteilung des beantragten Visums zugestanden hätte, wenn Herr H sich im Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit des A oder, was offen bleiben kann, im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht im Bundesgebiet aufgehalten hätte. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Klägerin zu 1) ist personensorgeberechtigter Elternteil des seit dem 7. Juli 2009 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verfügenden A. Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, dass A am 1. Dezember 2010 volljährig wurde. Denn maßgeblich ist, dass A minderjährig war, als die Klägerin zu 1) im August bzw. November 2009 die Erteilung des Visums beantragte. Der Senat folgt auch insoweit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. November 1997 - 1 C 22.96 -, juris Rn. 20 f; Urteil vom 7. April 2009 a.a.O., juris Rn. 10). Hiernach ist bei Ansprüchen, die an eine Altersgrenze geknüpft sind, für die Einhaltung der Altersgrenze auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Anders als die Beklagte meint, folgt aus dem Sinn und Zweck des § 36 Abs. 1 AufenthG nicht, dass von der vorgenannten Rechtsprechung abzuweichen wäre.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem zu § 20 AuslG (vgl. nunmehr § 32 AufenthG) ergangenen Urteil vom 18. November 1997 (a.a.O., juris Rn. 20) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt der Antragstellung auch bei anderen vergleichbaren Vorschriften des Ausländergesetzes maßgeblich ist. § 36 Abs. 1 AufenthG ist in diesem Sinne mit § 20 AuslG / § 32 AufenthG vergleichbar. Beide Regelungen dienen der Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zum Schutz des von seinen Eltern oder dem personensorgeberechtigten Elternteil getrennten minderjährigen Kindes. Wie sich aus der unterschiedlichen Ausgestaltung der Normen ergibt, reicht der Schutz des minderjährigen Flüchtlings sogar weiter. Bis zur Volljährigkeit wird, anders als bei § 32 AufenthG, nicht nach dem Alter differenziert; von den Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ausnahmslos abzusehen. Unterschiede ergeben sich zunächst dadurch, dass im Fall des § 32 AufenthG Akzessorietät zu dem Aufenthaltstitel der Eltern, im Fall des § 36 Abs. 1 AufenthG zu dem des minderjährigen Kindes besteht. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass § 32 AufenthG von vornherein ein dauerhaftes Bleiberecht vermittelt. Vielmehr ist eine nach § 32 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis bis zur Volljährigkeit von der Dauer des Bleiberechts der Eltern abhängig (vgl. § 34 Abs. 1 AufenthG). Auch das nach Eintritt der Volljährigkeit gemäß § 34 Abs. 2 AufenthG eigenständige Aufenthaltsrecht des Kindes ist nicht unbefristet. Eine Niederlassungserlaubnis ist dem nachgezogenen Kind nur unter den Voraussetzungen des § 35 AufenthG zu erteilen. Diese an den (u.a.) fünfjährigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis geknüpfte Privilegierung bedeutet nicht, dass bereits die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 AufenthG ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht begründet.

Vor allem aber greift auch im Fall des § 36 Abs. 1 AufenthG die nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. November 1997 a.a.O. maßgebliche Erwägung, dass der mit der Altersgrenze bezweckte Schutz des Minderjährigen nicht allein aufgrund der Dauer des Verwaltungs- und ggf. gerichtlichen Verfahrens entfallen darf. Dadurch, dass auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist, sollen Behörden und Gerichte dazu angehalten werden, zügig zu entscheiden, damit die Familieneinheit so bald wie möglich hergestellt werden kann. Im Interesse der Wirksamkeit des Minderjährigenschutzes gilt dies gleichermaßen für den Nachzug nach § 32 AufenthG und nach § 36 Abs. 1 AufenthG.

Hinsichtlich der übrigen Erteilungsvoraussetzungen bestehen keine Bedenken.

Die Klägerin zu 1) hat auch nicht etwa auf ihren Anspruch aus § 36 Abs. 1 AufenthG verzichtet. Zwar haben die Klägerin zu 1) und Herr H im Visumsverfahren erklärt, dass Herr H "nach Deutschland reisen solle" Dies geschah jedoch nur, weil sie von der Beigeladenen vor die Alternative gestellt worden waren, dass entweder die Klägerin zu 1) oder Herr H zu ihrem Sohn A nachziehen dürfe. Dass die Klägerin zu 1) auch aus Sicht der Beklagten und Beigeladenen keinen Verzicht aussprechen wollte, ergibt sich auch daraus, dass sie in Kenntnis der Zustimmung zur Visumserteilung an Herrn H und noch vor Erlass des entsprechenden Visums gegen den an die Kläger ergangenen Ablehnungsbescheid remonstrierte und zur Begründung angab, dass die Trennung der Familie eine "außergewöhnliche Belastung" darstelle.

Anders als die Beklagte meint, steht der Geltendmachung des Anspruchs der Klägerin zu 1) der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nicht entgegen. Zwar kann auch eine auf Gemeinschaftsrecht, hier Art. 10 Abs. 3 a) der Familienzusammenführungsrichtlinie, beruhende Rechtsposition versagt werden, wenn sie rechtsmissbräuchlich erworben wurde (vgl. hierzu: BVerwG, Beschluss vom 24. April 2008 - 1 C 20.07 -, juris Rn. 35 f). Das ist hier jedoch nicht der Fall.

Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Klägerin zu 1) die ihr aus § 36 Abs. 1 AufenthG zustehende Rechtsposition nicht aufgrund einer von ihr nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 a) i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AufenthG begangenen Straftat erlangt. Sie hat ihren Sohn A nicht in strafbarer Weise eingeschleust, um durch den Bezug von öffentlichen Leistungen im Bundesgebiet einen Vorteil zu erlangen.

Die hinsichtlich der Klägerin zu 1) allein in Betracht kommende Tatbestandsalternative der Hilfeleistung wurde im Ausland begangen (vgl. §§ 3, 5 bis 7 StGB), und zwar ausweislich der asylrechtlichen Anhörung des A allein von dem Ehemann der Klägerin zu 1) und einem Onkel des A. Außerdem scheiterte eine Strafbarkeit der Klägerin zu 1) daran, dass kein finaler Zusammenhang (s. zu diesem Erfordernis: Renner a.a.O., § 96 Rn. 8) zwischen der - behaupteten - Hilfeleistung der Klägerin zu 1) durch die Übergabe des A an einen Schleuser und dem von ihr nach dem Vorbringen der Beklagten erstrebten Vorteil bestünde. Denn die Erlangung des Visums und der anschließenden Aufenthaltserlaubnis sowie die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II sind wesentliche Zwischenschritte, die den Zusammenhang unterbrechen.

Unabhängig von alledem lässt sich nicht feststellen, dass der Vorsatz der Klägerin zu 1) (ebenso wie derjenige ihres Ehemannes H) im maßgeblichen Zeitpunkt der angeblichen Tathandlung auf Erlangung eines Vorteils durch den Bezug von Sozialhilfe bzw. Leistungen nach dem SGB II gerichtet war. Dies gilt jedenfalls deshalb, weil im Zeitpunkt der Einreise des A im Mai 2008 - auch nach Ansicht der Beklagten - von einer Gruppenverfolgung irakischer Staatsangehöriger yezidischen Glaubens auszugehen und A deshalb als Flüchtling i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen war. An dieser Wertentscheidung der Bundesrepublik Deutschland muss sich die Beklagte, wie das Verwaltungsgericht zu Recht erkannt hat, festhalten lassen. Die Klägerin zu 1) hat (bei unterstelltem Tatbeitrag) auch nicht etwa ausschließlich die formale Rechtsposition ihres Sohnes im Blick gehabt. Denn nach der asylverfahrensrechtlichen Anhörung des A und des Herrn H war jedenfalls A Schikanen durch muslimische Bewohner seines Heimatortes ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1) im Jahre 2008 in rechtlicher Hinsicht nicht auf die Schleusung ihres Sohnes A angewiesen war, um in der Bundesrepublik zu leben. Auch ihr wäre als Yezidin aus dem Irak bis Mitte August 2009 aufgrund des Erlasses des Bundesministeriums des Innern vom 15. Mai 2007 (jedenfalls) die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuerkannt worden. Der Klägerin zu 1) hätte deshalb - ebenso wie ihr Sohn A - bei Asylantragstellung in der Bundesrepublik eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erhalten. Dass sie nicht gemeinsam mit A und ihrer übrigen Familie in die Bundesrepublik flüchtete, hat sie unbestritten und - angesichts der Größe der Familie - plausibel auf finanzielle Gründe zurückgeführt.

Aus dem letztgenannten Grund hat die Klägerin zu 1) (ebenso wie ihr Ehemann) die ihr durch § 36 Abs. 1 AufenthG vermittelte Rechtsstellung auch nicht durch sittenwidriges Verhalten erworben. Der Umstand, dass der nach § 81 Abs. 1 AufenthG erforderliche Antrag erst am 6. August 2009 gestellt wurde, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Behauptung der Beklagten, dass A im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sei, ist bereits unzutreffend. Die Aufenthaltserlaubnis des A datiert vom 7. Juli 2009. Allerdings wurde der Visumsantrag für die Klägerin zu 1) nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten zu einem Zeitpunkt gestellt, als der genannte Erlass des Bundesministeriums des Innern zur Gruppenverfolgung von irakischen Yeziden kurz vor seiner Aufhebung stand. Auch ist davon auszugehen, dass der Klägerin zu 1) bei ihrer persönlichen Vorsprache bei der Deutschen Botschaft in Damaskus am 25. November 2009 bekannt war, dass sie in der Bundesrepublik nicht mehr als gruppenverfolgt angesehen würde. Denn die Kläger haben selbst vorgetragen, dass die Änderung der Anerkennungspraxis sich in der "enggeschlossenen sozialen Gesellschaft" der Yeziden innerhalb "weniger Wochen" herumgesprochen habe. Dies führt jedoch nicht zur Sittenwidrigkeit der Antragstellung. Denn der Antrag nach § 36 Abs. 1 AufenthG knüpft an den Aufenthalt eines unbegleiteten minderjährigen und daher betreuungsbedürftigen Flüchtlings i.S.d. Art. 10 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie an, und nicht an eine fortbestehende Verfolgungssituation. Deshalb entfällt der auf einer gültigen Aufenthaltserlaubnis beruhende Nachzugsanspruch der Eltern bei Änderungen der flüchtlingsrelevanten Umstände nur dann, wenn die Anerkennung des Minderjährigen als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 AsylVfG widerrufen wird und dadurch die Aufenthaltserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erlischt. Dies ist vorliegend jedoch nicht geschehen. Dass nach dem Vorbringen der Beigeladenen vor eineinhalb Monaten - und damit mehr als zwei Jahre nach Änderung der Erlasslage - "die Prüfung des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft" des A "eingeleitet" worden sei, ist nicht ausreichend.

Schließlich greift auch der von der Beklagten geltend gemachte Einwand, dass die Klägerin zu 1) bei Visumserteilung nach § 36 Abs. 1 AufenthG wegen der zwischenzeitlichen Volljährigkeit des A. nach der Einreise sofort wieder ausreisen müsse, nicht durch. Das Visum dürfte nicht - wie die Beklagte meint - auf eine "logische Sekunde" befristet werden. Wie ausgeführt, ist bei Ansprüchen, die an eine Altersgrenze geknüpft sind, insoweit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Nichts anderes kann für die Befristung des Visums gelten, um eine Aushöhlung des gesetzlich bezweckten Minderjährigenschutzes durch eine überlange Verfahrensdauer zu vermeiden. Wie aus dem Herrn H erteilten Visum folgt, hat die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, das Visum auf einen Zeitraum von drei Monaten zu befristen [vgl. § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Nr. 6.4.2.1 ff der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl. 2009 S. 878)]. Ein im Zeitpunkt der gemeinsamen Antragstellung bestehender sachlicher Grund, hiervon im Fall der Klägerin zu 1) abzuweichen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. [...]