OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.10.2011 - 11 B 2.10 - asyl.net: M19366
https://www.asyl.net/rsdb/M19366
Leitsatz:

Bei ausländischen Sorgerechtsentscheidungen kommt ein Verstoß gegen den ordre public sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiellrechtlicher Hinsicht in Betracht. Dabei ist nicht zu prüfen, ob das ausländische Gericht das dortige Recht fehlerfrei angewandt hat. Abzustellen ist allein auf die Wirkung der ausländischen Sorgerechtsentscheidung, also auf deren Ergebnis. Die einer Sorgerechtsübertragung zugrundeliegende "ausländerrechtliche und ökonomische" Motivation, dem Kind durch die Übersiedlung zu seinem in Deutschland lebenden Elternteil eine bessere Förderung seiner schulischen und nachfolgenden beruflichen Ausbildung zu bieten und es ihm zu ermöglichen, unter wirtschaftlich besseren Ausgangsbedingungen Fuß zu fassen, spricht nicht gegen das Kindeswohl.

Schlagwörter: Familiennachzug, Sorgerecht, ordre public, Kindernachzug, ausländische Sorgerechtsentscheidung, Kindeswohl, Sorgerechtsverfahren, alleiniges Sorgerecht,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

aa) Das Urteil leidet nicht an einem mit dem ordre public unvereinbaren Verfahrensmangel. Wie sich aus der schriftlichen Urteilsbegründung ergibt, waren sowohl die Mutter der Kläger als auch diese selbst bei der Verhandlung anwesend und hatten Gelegenheit, sich zu äußern. Die Mutter der Kläger hat sich mit der vom Vater beantragten Sorgerechtsübertragung ausdrücklich einverstanden erklärt und diesen Entschluss damit begründet, dass es für die Kläger im Hinblick auf ihre Ausbildung und Zukunft besser sei, wenn sie bei ihrem in deutlich besseren finanziellen Verhältnissen lebenden Vater leben würden. Sie hat damit nicht nur dem Klageantrag zugestimmt, sondern auch dessen Begründung gutgeheißen. Die Kläger sind vom Gericht "in einer Art und Weise, die der seelischen Gesundheit … nicht schadet" persönlich befragt worden, und haben ebenfalls erklärt, bei ihrem Vater leben zu wollen. Damit erfolgte die Übertragung im - während der Verhandlung ausdrücklich erklärten - Einvernehmen aller von der Entscheidung unmittelbar betroffenen Familienmitglieder. Ferner wurden Zeugen des Vaters der Kläger vernommen und eine Auskunft der "Staatsanwaltschaft" in Halfeti zur sozialen und wirtschaftlichen Situation der Mutter und des Vaters der Kläger eingeholt. Damit ist nicht ersichtlich, inwieweit das türkische Familiengericht gegen nach deutschen Maßstäben verfahrensrechtliche Essentialia gravierend verstoßen haben sollte.

Soweit sich die Beklagte darauf beruft, in der letzten zur Frage des Sorgerechts ergangenen Entscheidung des Zivilsenats des türkischen Kassationsgerichtshofs (Urteil vom 12. März 2008 - I. 2008/2-229 -) werde die – schon zuvor geltende – Regel bestätigt, dass neben der Anhörung der Kinder während des Sorgerechtsverfahrens auch eine sachverständige Stelle eine unabhängige Stellungnahme zu erstellen habe, bezieht sich dies allenfalls auf Verfahrensanforderungen des türkischen Rechts. Demgegenüber ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass eine entsprechende Verfahrensgestaltung für das deutsche Recht unabdingbar wäre und ein entsprechendes Unterlassen hierzu in einem – gegen den ordre public verstoßenden – unerträglichen Widerspruch stünde.

Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass nicht jede Abweichung von zwingenden Vorschriften des deutschen Prozessrechts bereits eine Verletzung des ordre public begründen kann. Der Vorbehalt des ordre public greift vielmehr nur dann, wenn das Verfahren von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass es nicht als in einem geordneten, rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden bzw. wenn - angesichts der sich in Sorgerechtsverfahren aus der notwendigen Orientierung am Kindeswohl ergebenden weitergehenden verfahrensrechtlichen Anforderungen - bereits das durchgeführte Verfahren eine offensichtlich fehlende Berücksichtigung des zwingend zu beachtenden Kindeswohls belegt. Prüfungsmaßstab sind auch insoweit insbesondere die Grundrechte.

Nach der deshalb insbesondere zu berücksichtigenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 18. Juli 2006 - 1 BvR 1465/05 -, zit. nach juris Rn 29 f., Beschluss v. 29. Oktober 1998 - 2 BvR 1206/98 -, zit. nach juris Rn 57 ff., 76 ff.; Beschluss v. 18. Februar 1993 - 1 BvR 692/92 -, zit. nach juris Rn 11 f.) verlangen der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz der Kinder und ihr Anspruch auf rechtliches Gehör zwar eine Verfahrensgestaltung, die eine eigenständige Wahrnehmung der Kindesbelange sicherstellt und es den Gerichten ermöglicht, die Grundlagen einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung möglichst zuverlässig zu erkennen. Wenn eine für die Zukunft des Kindes bedeutsame Entscheidung getroffen wird und wegen eines Konflikts zwischen den Eltern oder eines Interessenkonflikts zwischen den Eltern und dem Kind die Interessen des Kindes nicht hinreichend durch die Eltern wahrgenommen werden können, kann sich daraus bei Kindern, deren Alter und Reife eine eigene Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte nicht erlaubt, auch die Pflicht ergeben, das Kindeswohl verfahrensrechtlich dadurch zu sichern, dass dem Kind bereits im familiengerichtlichen Verfahren ein Pfleger zur Wahrung seiner Interessen zur Seite gestellt wird. Ob darüber hinaus eine weitere Aufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich ist, bleibt indes grundsätzlich dem zuständigen Fachgericht vorbehalten (vgl. dazu z.B. BVerfG, Beschluss v. 5. November 1980 - 1 BvR 349/80 -, zit. nach juris Rn 25, 29).

Davon ausgehend begründet der Verzicht auf die Einholung einer "unabhängigen Stellungnahme einer sachverständigen Stelle" in einem Sorgerechtsverfahren, in dem nicht nur beide Elternteile, sondern auch die angehörten Kinder selbst mit der beantragten Sorgerechtsänderung nicht nur einverstanden sind, sondern diese ausdrücklich wünschen, weil sie sich davon eine bessere Förderung der Erziehung und Ausbildung der Kinder versprechen, weder eine die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Frage stellende Abweichung von zwingenden verfahrensrechtlichen Grundsätzen noch einen Beleg für eine offensichtlich fehlende Orientierung der Entscheidung am Wohl der Kinder. In derartigen Fallkonstellationen vermag deshalb auch der Verzicht auf eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines unabhängigen Sachverständigengutachtens keine Verletzung des ordre public in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu begründen. Selbst wenn die vom zuständigen türkischen Gericht im Sorgerechtsverfahren durchgeführte Sachverhaltsaufklärung den materiellen Anforderungen des deutschen Familienrechts nicht in jeder Hinsicht genügen sollte, belegte das noch keine offensichtliche Verkennung oder gar Missachtung der grundrechtlich geforderten und insoweit zu den Grundwerten des deutschen Familienrechts zählenden Pflicht, das gerichtliche Verfahren wie auch die Sorgerechtsentscheidung selbst maßgeblich am Kindeswohl zu orientieren.

bb) Ein materiellrechtlicher Verstoß gegen den ordre public liegt ebenfalls nicht vor.

Insofern ist voranzustellen, dass es für sich genommen noch keinen Verstoß gegen den Vorbehalt des ordre public begründen würde, wenn eine Sorgerechtsübertragung auf den - wie hier - mit der Kindesmutter nicht verheirateten Vater nach türkischem Recht nicht möglich sein sollte, weil es, wie ausgeführt, nicht darauf ankommt, ob das türkische Gericht das dortige Recht fehlerfrei angewandt hat; eine solche Überprüfung ist dem Senat verwehrt.

Abzustellen ist allein auf die Wirkung der ausländischen Sorgerechtsentscheidung, also auf deren Ergebnis. Maßgeblich ist, ob die Entscheidung in der Sache selbst gegen Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt; Prüfungsmaßstab sind auch insoweit vor allem die Grundrechte bzw. die sich aus diesen ergebenden wesentlichen Grundwerte des deutschen Familien- und Sorgerechts. Es kommt nicht darauf an, ob die Sorgerechtsübertragung aus Kindeswohlgesichtspunkten geradezu zwingend ist. Maßgebend ist vielmehr, ob das Kindeswohl der Übertragung gegebenenfalls zwingend entgegensteht. Daher ist nur zu fragen, ob eine Abwägung der für und wider das Kindeswohl sprechenden Umstände zu dem Ergebnis führen kann, das Sorgerecht, wie erfolgt, auf den Vater zu übertragen, oder ob dieses Ergebnis offensichtlich unvertretbar ist. Dagegen würde der ordre public nicht schon dann verletzt, wenn die Begründung des ausländischen Gerichts aus hiesiger Sicht defizitär ist oder wenn einem anderen Ergebnis aus hiesiger Sicht der Vorzug gegeben worden wäre.

Die Sorgerechtsentscheidung des türkischen Familiengerichts vom 13. Dezember 2007 steht nicht in einem so starken Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen, dass sie nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheinen würde und deshalb materiell nicht anerkennungsfähig wäre. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dass die Sorgerechtsübertragung mit dem Kindeswohl der Kläger offensichtlich unvereinbar wäre.

In seiner aufgrund der Verhandlung, der Aussagen der Zeugen, der Vorträge der Parteien und der Augenscheinnahme des Familienregisters vorgenommenen Gesamtwürdigung ist das türkische Familiengericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Mutter der Kläger ihre Sorgerechtspflichten nicht erfüllen könne, weil sie keine Arbeit und kein Einkommen habe und in schlechten finanziellen Verhältnissen lebe. Demgegenüber arbeite der Vater der Kläger in Deutschland und lebe in besseren wirtschaftlichen Verhältnissen. Er habe keine schlechten Angewohnheiten und könne sich besser um die Kläger kümmern. Daher werde der Klage stattgegeben.

Dass das Ergebnis dieser Abwägung, also die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater der Kläger, und dessen weitere Folge, dass die Kläger zu ihrem Vater nach Deutschland übersiedeln, in einem unerträglichen Widerspruch zu deren Kindeswohl stünden, vermag der Senat nicht festzustellen. Die das Urteil des türkischen Familiengerichts tragenden Erwägungen, die Kläger würden bei ihrem Vater in Deutschland in besseren wirtschaftlichen Verhältnissen leben, dieser könne besser für sie (nämlich ihre Ausbildung und Erziehung) sorgen, zeigt einen Umstand auf, der nachvollziehbar im Interesse des Kindeswohls der Kläger liegt. Dies ist eine vertretbare Erwägung, die auch das Ergebnis der Entscheidung vertretbar erscheinen lässt. Zwar ist nicht zu vernachlässigen, dass die Kläger aus den ihnen vertrauten Verhältnissen herausgelöst werden, und ihre Mutter als bisherige Betreuungsperson durch ihren Vater ersetzt wird, zu dem sie bislang weitaus weniger Kontakt hatten. Auch dürfte die Eingewöhnung in eine für sie in vielerlei Hinsicht fremde Umgebung und einen fremden Kulturkreis, das Erlernen einer fremden Sprache und die Integration in das hiesige Schulsystem für die Kläger durchaus Schwierigkeiten mit sich bringen. Andererseits ist mit der durch die Sorgerechtsübertragung beabsichtigten Übersiedlung der Kläger nach Deutschland aber auch deren - durch bloße Unterhaltszahlungen ihres Vaters so nicht erreichbare - Chance verknüpft, eine bessere Förderung ihrer schulischen und nachfolgenden beruflichen Ausbildung zu erreichen und unter wirtschaftlich besseren Ausgangsbedingungen Fuß zu fassen. Insoweit mag die Sorgerechtsübertragung "ausländerrechtlich und ökonomisch" motiviert gewesen sein. Die damit für die Kläger angestrebte Möglichkeit, potenziell bessere Zukunftschancen zu nutzen, spricht für sich genommen aber nicht gegen, sondern für das Kindeswohl. Dieses ist nicht nur durch die emotionalen Bindungen (insbesondere) zu den Eltern geprägt, sondern auch durch objektive Umstände materieller Art, die sich für die Kläger potenziell zukunftssichernd auswirken. Legt man zu Grunde, dass der Vater der Kläger Erfahrungen als Emigrant in Deutschland gesammelt hat und ebenso wie die Kindesmutter mit den Verhältnissen in der Türkei vertraut ist, so kann die übereinstimmende Entscheidung beider Elternteile, es wäre besser für die Kläger, in materiell und sozial stärker gesicherten Verhältnissen in Deutschland zu leben, durchaus als in deren wohlverstandenem Interesse liegend angesehen werden. Damit ergibt sich, dass das vom Verwaltungsgericht beanstandete Motiv, die Sorgerechtsentscheidung sei "ausländerrechtlich und ökonomisch“ motiviert, keine Umstände offenbart, die unter Kindeswohlgesichtspunkten sachwidrig wären, sondern Umstände, die aus Sicht der türkischen Familie durchaus dem Wohl ihrer Kinder entsprechen können. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass das türkische Familiengericht durch die ausgesprochene Umgangsregelung ("Besuchsrecht") darauf Bedacht genommen hat, dass der Kontakt der Kläger zu ihrer Mutter nicht abreißt, und dass den Klägern selbstverständlich die Option erhalten bleibt, sich spätestens nach Eintritt der Volljährigkeit für eine Rückkehr zu entscheiden. Dass sich die Folgen der Sorgerechtsübertragung deshalb für die Kläger schädlich auswirken würden, weil sie durch ihren Vater gravierende Nachteile zu erwarten hätten, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die in dem Sorgerechtsurteil enthaltene Feststellung, dass der Vater der Kläger keine schlechten Angewohnheiten habe, deutet im Übrigen darauf hin, dass das türkische Gericht auch diesen Aspekt geprüft hat.

Weiter ist auch in materieller Hinsicht zu berücksichtigen, dass die Übertragung des Sorgerechts für die Kläger vom Vater auf die Mutter dem Willen beider Elternteile und der Kläger selbst entspricht, was im deutschen Recht gem. § 1671 Abs. 1, 2 BGB - wenn auch im Fall gemeinsamen Sorgerechts der nicht miteinander verheirateten Eltern und bei fehlendem Widerspruch des mindestens 14-jährigen Kindes - sogar allein bereits einen Anspruch auf die entsprechende Sorgerechtsübertragung begründen würde, sofern nicht zwingend eine andere Regelung getroffen werden muss (Abs. 3). Die Regelung gilt zwar nicht für Eltern, die (noch) nicht über ein gemeinsames Sorgerecht verfügen. Diese könnten aber ohne weiteres zunächst ein gemeinsames Sorgerecht begründen, um sodann gem. § 1671 BGB vorzugehen.

Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass der im Verfahren geäußerte Verdacht, es handele sich vorliegend um einen von langer Hand geplanten schleichenden Familiennachzug, gerade keinen Verstoß gegen das Kindeswohl offenbaren würde, weil er implizieren würde, dass über die Kläger letztlich der Nachzug der gesamten Familie, also auch der Kindesmutter, beabsichtigt wäre. Einem von vornherein beabsichtigten "schleichenden" Nachzug der gesamten Familie wäre bereits bei der Prüfung der Nachzugsvoraussetzungen des Vaters der Kläger zu begegnen gewesen.

Schließlich ist vorsorglich darauf hinzuweisen, dass der ordre-public-Vorbehalt nicht dafür instrumentalisiert werden darf, die in § 20 Abs. 3 AuslG auch für den Fall des Vorliegens einer anzuerkennenden ausländischen Sorgerechtsübertragung noch vorgesehene Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde aufzunehmen und in diesem Rahmen nunmehr eine Prüfung insbesondere der Integrationsvoraussetzungen und der Integrationsfähigkeit des Kindes zu verlangen. Mit der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie) ist der Richtliniengeber im Wege typisierender Bewertung davon ausgegangen, dass in den Fällen des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie ein Nachzug des Kindes zu dem sorgeberechtigten Elternteil ohne weitere Prüfung regelmäßig dem Kindeswohl entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 7. April 2009 - 1 C 17/08 -, zit. nach juris Rn 13). Dies hat der deutsche Gesetzgeber in § 32 Abs. 3 AufenthG insoweit übernommen, als ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil besteht, wenn dieser "allein" sorgeberechtigt ist. Diese Entscheidung darf nicht durch eine Ausweitung der ordre-public-Vorbehalte gegen ausländische Sorgerechtsentscheidungen um eine "angemessene Integrationsprüfung" umgangen werden. [...]