LG Potsdam

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Zitieren als:
LG Potsdam, Beschluss vom 13.01.2012 - 12 T 1/12 - asyl.net: M19378
https://www.asyl.net/rsdb/M19378
Leitsatz:

Kommt es bei Abschiebungshaft zu einer Verfahrensverzögerung, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtinge in einem Dublin II-Verfahren kein dringendes Übernahmeersuchen an die zuständige Behörde des mutmaßlich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaats richtet, liegt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor.

Schlagwörter: Beschleunigungsgebot, Freiheitsentziehung, dringendes Übernahmeersuchen, Übernahmeersuchen, dringende Antwort, Dublinverfahren,
Normen: GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 2, VO
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung war festzustellen und der Beschluss des Amtsgerichts Luckenwalde aufzuheben.

Es liegt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor.

Die Anordnung von Abschiebungshaft in der Form der Sicherungshaft setzt nicht nur einen Haftgrund, sondern auch voraus, dass die Abschiebung des betroffenen Ausländers tatsächlich und mit der gebotenen Beschleunigung betrieben wird.

Die Prüfung, ob die Abschiebung tatsächlich und mit der gebotenen Beschleunigung betrieben wird, ist erforderlich, weil nur dann ein Bedürfnis zur Sicherung der Abschiebung durch Haft bestehen kann.

Der Abschiebungshaftrichter hat von Anfang an darüber zu wachen, dass die beteiligten Behörden das Beschleunigungsgebot einhalten. Die Behörden sind dazu verpflichtet, alles zu tun, um Abschiebungshaft zu vermeiden bzw. so kurz wie möglich zu halten. Dies folgt bereits aus dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. dazu BVerfG NStZ 1994, 93, 1995, 195; vgl. dazu auch BayOblGZ 1994, 155).

Das Beschleunigungsgebot gilt auch für Freiheitsentziehungen nach dem Ausländergesetz und ist von allen Verfahrensbeteiligten, insbesondere aber von der Ausländerbehörde zu beachten. Die Ausländerbehörde muss spätestens dann, wenn vorhersehbar ist, dass die Abschiebung notwendig ist und zu deren Durchsetzung Abschiebungshaft erforderlich sein könnte, ohne Aufschub und beschleunigt alle notwendigen Anstrengungen unternehmen muss, um die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Abschiebungshaft entweder entbehrlich oder deren Vollzug auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt wird (vgl. auch OLG Frankfurt a.M. vom 28.3.1996, Az.: 20 W 62/96).

Die Abschiebungshaft ist nur dazu bestimmt, die Abschiebung eines Ausländers zu sichern. Sie ist nicht dazu bestimmt, die Tätigkeit der Ausländerbehörde oder anderer Behörden zu erleichtern (vgl. dazu OLG Hamm 20 W 34/88; auch KG NJW 1966, 1624).

Dem Beschleunigungsgebot ist nur dann Genüge getan, wenn es auch im Bereich der anderen mit der Angelegenheit befassten Behörden keine Verzögerungen gegeben hat. Diese Verzögerungen können nicht zu Lasten des Betroffenen gehen (vgl. OLG Düsseldorf, InfAuslR 2008, 38).

Die beteiligten Behörden haben die Ausreise aber nicht mit der erforderlichen Beschleunigung betrieben, wobei es nicht darauf ankommt, ob den beteiligten Behörden ein Vorwurf zu machen ist.

Wie sich aus der Akte ergibt, hat die Beteiligte ein dringendes Übernahmeersuchen im Sinne des Art. 17 Abs. 2 DÜ II-VO (EG) Nr 343/2003 (Bl. 49 Ausländerakte) an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 3.12.2011 gestellt.

Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Beschwerdeführervertreters hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge demgegenüber kein dringendes Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden gerichtet, sondern nur ein einfaches mit einer Fristsetzung von 1 Monat. Dem widerspricht das aus der Ausländerakte ersichtliche Übernahmeersuchen (Bl. 85) nicht. Wie sich aus Art. 17 Abs. 2 der vorgenannten Norm ergibt, müssen in dem Gesuch die Gründe genannt werden, die eine dringende Antwort rechtfertigen. Darüber hinaus ist anzugeben, innerhalb welcher Frist eine Antwort erwartet wird. Anhaltspunkte dafür, dass das Übernahmeersuchen diese Voraussetzungen erfüllt, sind nicht gegeben. Demgemäß war davon auszugehen, dass es an der gebotenen Beschleunigung gefehlt hat.

Darüber hinaus hat das gerichtliche Verfahren zu vom Betroffenen nicht zu verantwortenden Verzögerungen geführt.

Wie sich aus dem Eildienstplan ergibt, war am 3.12.2011 - einem Sonnabend - das Amtsgericht Luckenwalde für die Anordnung der Haft als Eildienstgericht zuständig. Demgegenüber ist - offensichtlich versehentlich - ein Formular des Amtsgerichts Potsdam als Beschlussgrundlage genutzt worden. Aufgrund dieses Umstandes ist - wie der Beschwerdeführervertreter nachvollziehbar und unwiderlegt ausgeführt hat - die bei dem Amtsgericht eingereichte Beschwerde an ihn zurückgesandt worden, weil sie dort nicht habe zugeordnet werden können. Die Beschwerde sei von ihm erneut eingelegt worden und sei aufgrund der falschen Angaben im Beschluss erst 5 Tage später dem zuständigen Gericht vorgelegt worden, nachdem sie von Gericht zu Gericht weitergeleitet worden sei. Auch dieser Umstand führt zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. Alle staatlichen Stellen, die im Rahmen einer freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligt sind, haben die Angelegenheit mit der erforderlichen Beschleunigung zu betreiben, woran es fehlt, wenn Umstände aus der gerichtlichen Sphäre an einer Verzögerung mitwirken. [...]