VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 06.02.2012 - 19 CS 11.2613 - asyl.net: M19392
https://www.asyl.net/rsdb/M19392
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung gegen Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis des ghanaischen Vaters eines ghanaischen Kindes, dessen ghanaische Mutter auch Mutter eines deutschen Kindes ist.

Schlagwörter: Nachzug eines Elternteils, Familiennachzug, außergewöhnliche Härte, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall, deutsches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Verhältnismäßigkeit, Trennung, Dauer, Trennungsdauer
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2. Demgegenüber begegnet die Ablehnung der Erteilung einer Genehmigung nach § 36 Abs. 2 AufenthG Bedenken.

a) Vorliegend handelt es sich um den Nachzug eines Elternteils (§ 36 AufenthG) zu einem nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Kind; da sich dessen (auch) sorgeberechtigte Mutter im Bundesgebiet aufhält, verbleibt es bei der gesetzlichen Regelung des § 36 Abs. 2 AufenthG, der eine außergewöhnliche Härte erfordert. Ob eine solche beim Antragsteller vorliegt (vgl. hierzu BVerwG vom 25.6.1997 - 1 B 236/96 <juris>) wurde von der Antragsgegnerin nicht anhand des Maßstabes des Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK geprüft, sondern quasi unterstellt ("selbst wenn ... das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte angenommen wird"; Bescheid vom 2.8.2011 Seite 5).

Ob der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG ebenso die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhaltes) entgegensteht oder von einem Ausnahmefall auszugehen ist, weil höherrangiges Recht (Schutz von Ehe und Familie) dies im Hinblick auf die familiäre Einheit gebieten (vgl. BVerfG vom 10.5.2008 - 2 BvR 588/08 <juris>; vom 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 <juris>; Hailbronner, AuslR, § 5 RdNr. 6), wurde seitens der Antragsgegnerin nicht thematisiert. Nach den nicht weiter bestrittenen Ausführungen des Antragstellers im Schriftsatz vom 25. November 2011, wonach die Mutter des gemeinsamen Kindes auch Mutter eines deutschen Kindes sei und daher eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG besitze, könnte von einem Ausnahmefall auszugehen sein. Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen kann weder dem deutschen Kind noch der Mutter zugemutet werden, mit dem Kind des Antragstellers zur Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland zu leben.

Ungeachtet dessen kann auch nach der Regelung des § 36 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhaltes) abgesehen werden. Eine insoweit erforderliche Ermessensentscheidung ist im streitgegenständlichen Bescheid nicht erkennbar.

b) Auch wenn danach die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht, was eine entsprechende Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin erforderlich macht, ist darüber hinaus auch die weitere allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 AufenthG zu prüfen. Danach setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Der Antragsteller hat für den begehrten längerfristigen Aufenthalt nicht das erforderliche nationale Visum, das vor der Einreise erteilt wird, besessen (§ 6 Abs. 4 AufenthG). Wie das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zutreffend ausgeführt hat, kann sich der Antragsteller nicht auf die Ausnahmetatbestände in § 39 AufenthVO berufen, insbesondere auch nicht auf Nr. 6 dieser Vorschrift, weil er nicht die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt (vgl. zuletzt BVerwG vom 16.11.2010 - 1 C 17.09 <juris> RdNr. 24). Auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts (BA S. 10) wird Bezug genommen.

Nach aktuellem Kenntnisstand könnte jedoch davon auszugehen sein, dass es dem Antragsteller aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).

Der Antragsteller hat gegenüber der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Regelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG über ein Absehen von der Visumspflicht sei nicht anwendbar, weil weder die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt seien noch es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar sei, das Visumsverfahren nachzuholen, auf eine nicht ausreichende Würdigung der Bedeutung von Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK hingewiesen, insbesondere auch auf die hierzu vorliegende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Zwar zitiert der angegriffene Beschluss hinsichtlich dieser Thematik eine Entscheidung des OVG Lüneburg vom 7. April 2011 (AZ. 11 ME 72/11 <juris>). Auch im angegriffenen Bescheid, auf dessen Begründung der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bezug nimmt, wird die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 4.12.2007 - 2 BvR 2341/06 <juris>) zugrunde gelegt. Danach ist es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG aber grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerwG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses vom 7.11.1984 - 2 BvR 1299/84, NVwZ 1985, 260). Das Aufenthaltsgesetz trägt dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) abzusehen (BVerfG vom 4.12.2007 a.a.O., RdNr. 6).

Die Antragsgegnerin hat zwar zutreffend darauf verwiesen, dass im Haushalt des Antragstellers weder betreuungsbedürftige Kinder noch pflegebedürftige Personen leben, deren Betreuung im Fall einer Reise nicht gesichert wäre (vgl. Huber, AufenthG, § 5 RdNr. 18; BayVGH, Beschluss vom 14.6.2011 - 19 CS 11.606). Es erscheint jedoch nicht fernliegend - worauf weder das Verwaltungsgericht noch die Antragsgegnerin eingegangen sind -, deshalb besondere Umstände des Einzelfalles anzunehmen, weil von einer vorübergehenden Trennung für die Zeitdauer eines Visumsverfahrens die nunmehr zweijährige Tochter des Antragstellers betroffen ist, die den vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung wohl nicht hinreichend begreifen kann (vgl. hierzu BVerfG vom 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 <juris>). Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Zeitraum der Trennung nach den vorliegenden Erkenntnissen des Senates nicht absehbar ist. Entgegen der nicht weiter begründeten Auffassung des Verwaltungsgerichts liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass es dem Antragsteller aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles unzumutbar ist, das Bundesgebiet zur Nachholung des Visumsverfahrens zu verlassen.

Für die Zumutbarkeitsprüfung ist eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anzustellen. Dabei ist das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumsverfahrens mit den legitimen Interessen des Ausländers abzuwägen, wobei die Grundrechte als höherrangiges Recht zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH vom 22.8.2007 - 24 CS 07.1495 <juris>; Hallbronner, AuslR, § 5 RdNr. 74). Für das öffentliche Interesse streitet insbesondere die Erwägung, dass das Visumsverfahren ein wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung ist (vgl. BT-Drs. S. 70), von dem nur ausnahmsweise abgewichen werden soll. Es stellt auch einen beachtlichen öffentlichen Belang dar, dem Eindruck entgegenzuwirken, man könne durch eine Einreise stets vollendete Tatsachen schaffen (vgl. Hailbronner, AuslR a.a.O. m.w.N.). Auch wenn demgegenüber die vorübergehende Trennung von Eheleuten oder eines Elternteils von minderjährigen Kindern vor dem Hintergrund von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK grundsätzlich zumutbar ist (vgl. Huber, AufenthG, § 5 RdNr. 19; Hailbronner, AuslR, § 5 RdNr. 77 m. Nachw. a.d. Rspr.), kommt im vorliegenden Fall zum Tragen, dass sich die Dauer eines solchen Verfahrens nicht hinreichend abschätzen lässt:

Nach den Merkblättern der deutschen Botschaft in Accra zum Ehegattennachzug und zum Nachzug eines Kindes - abrufbar unter www.accra.diplo.de/Vertretung/accra/de101/Visabestimmungen/Visabestimmungen.html - muss für die Antragstellung ein Termin zur persönlichen Vorsprache vereinbart werden, für den Wartefristen bis zu acht Wochen bestehen; bei Unvollständigkeit der Unterlagen muss ein neuer Vorsprachetermin vereinbart werden. Die Bearbeitungszeit kann mehrere Monate betragen. Da das Visum nicht ohne Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde erteilt werden kann, hat die Botschaft nur bedingt Einfluss auf die Bearbeitungsdauer. Dabei kann dahinstehen, welche Dauer das Zustimmungsverfahren bei der Antragsgegnerin in Anspruch nimmt, da nicht ersichtlich ist, dass die Antragsgegnerin eine Zustimmung erteilt. Sie steht auf dem Standpunkt, dass dem Antragsteller keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, weil sein Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Es muss deshalb damit gerechnet werden, dass die deutsche Botschaft den Antrag ablehnt, weil die Antragsgegnerin ihre Zustimmung zur Erteilung des Visums nicht erteilt und der Antragsteller den Ausgang eines vor dem zuständigen Verwaltungsgericht Berlin einzuleitenden Klageverfahrens abwarten muss, bevor er erneut nach Deutschland einreisen kann.

Die damit zu erwartende längere Trennung von unbestimmter Dauer könnte für den Antragsteller und seine Tochter im Hinblick auf Art. 6 GG nicht zumutbar sein.

Eine auch nur vorübergehende Trennung eines Elternteils von seinem Kind kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn es sich um einen nicht unerheblichen Zeitraum handelt oder keine Vorstellung über die Dauer der Trennung besteht. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist. Zum einen kann ein solches Kind den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen und erfährt dies rasch als endgültigen Verlust; zum anderen ist zu berücksichtigen, dass gerade bei einem kleinen Kind die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so dass eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG vom 31.8.1999 - 2 BvR 1523/99 <juris>; vom 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 <juris>; vom 10.5.2008 - 2 BvR 588/08 <juris>; vom 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 <juris>). Dies setzt allerdings voraus, dass ein regelmäßiger Umgang des ausländischen Elternteils vorliegt, der dem auch sonst Üblichen entspricht, also eine geistige und emotionale Auseinandersetzung stattfindet, die die Entwicklung des Kindes mitprägt (vgl. u. a. BVerfG vom 9.1.2009 InfAuslR 2009, 1136, <juris> RdNrn. 19, 21). Die Stellungnahme des Jugendamtes vom 9. Februar 2011 enthält insoweit eine Wertung, substantiiert sie jedoch nicht; insbesondere äußert sie sich nicht zur Häufigkeit und Dauer dieser Kontakte, zur familiären Situation im Übrigen (zur Rolle der Mutter; der ihres weiteren Kindes, das deutscher Staatsangehöriger ist; der dessen Vaters; Lebensgrundlage dieser Personen).

Insgesamt bedarf es deshalb einer an Sinn und Zweck der gesetzlichen Ermächtigung orientierten Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin darüber, ob sie von der Nachholung des Visumsverfahrens absieht. Diese Ermessensentscheidung hat die Antragsgegnerin nicht getroffen. Die Frage, ob das Ermessen, das der Antragsgegnerin nach § 36 Abs. 2 AufenthG eingeräumt ist, hier wegen des Schutzes der Familie auf Null reduziert ist, bedarf im Rahmen des Eilverfahrens keiner abschließenden Entscheidung. Für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung reicht aus, dass der Antragsteller jedenfalls einen Anspruch auf Verbescheidung hat, den die Antragsgegnerin bisher nicht erfüllt hat. [...]