VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 30.01.2012 - 6 K 625/10.A - asyl.net: M19397
https://www.asyl.net/rsdb/M19397
Leitsatz:

In der Türkei ist die Behandlung einer chronifizierten, psychischen Erkrankung durch die möglicherweise erforderliche, stationäre und die notwendige medikamentöse Behandlung und ambulante Therapierung gesichert. Bei einer psychisch erkrankten älteren Frau, die emotional und in ihrer praktischen Lebensführung zwingend auf ihre in Deutschland lebenden Kindern angewiesen ist, würde die Rückkehr in die Türkei trotz möglicher Behandlung zu einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung führen.

Schlagwörter: medizinische Versorgung, Depression, psychische Erkrankung, Yesil Kart, Türkei, Familienangehörige, Unterstützung, Suizidgefahr
Normen: § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Ausgehend hiervon hat die Klägerin einen Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Gemessen an diesen Anforderungen steht der Klägerin ein zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Denn es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich ihr Gesundheitszustand nach einer Abschiebung in die Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich - im Sinne einer extremen individuellen Gefahrensituation - verschlimmern wird.

In der Türkei ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor der Privatgesundheitseinrichtungen grundsätzlich gewährleistet. Auch die für die Klägerin notwendige ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln ist generell verfügbar. [...]

Trotz der aufgezeigten Defizite ist damit durch die dargestellte medizinische Grundversorgung in der Türkei die für die Klägerin notwendige ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln grundsätzlich gewährleistet.

Nach dem Inhalt der Akten leidet die Klägerin seit dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 2003 an einer chronischen Depression (ICD 10: F34; Dr. ...) nach schwerer reaktiver Depression - mit teilweise psychotischer Symptomatik - und Spannungskopfschmerzen (ICD 10: F 32.2, F 32.3, F 34.1, F 43.2, G 44.2, Dr. ... und Dr. ...) bzw. schwerer rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig schwere Episode, mit ausgeprägten Somatisierungsstörungen (ICD 10: F33.2, Dr. ...). Die Kammer hat keine Veranlassung, diese in zahlreichen Stellungnahmen, Attesten und Gutachten verschiedener Amts- und Fachärzte dokumentierten ärztlichen Diagnosen in Zweifel zu ziehen.

Die für die Behandlung dieser psychischen Erkrankung unter Umständen erforderliche stationäre und im Übrigen dauerhaft notwendige medikamentöse Behandlung und ambulante Therapierung der Klägerin ist in der Türkei grundsätzlich gesichert.

Wie bereits ausgeführt ist die für die Versorgung psychisch kranker Menschen erforderliche Infrastruktur mit den dort bestehenden psychiatrischen Stationen in den staatlichen Krankenhäusern - die auch ambulant tätig werden -, mit mehr als 60 Dauereinrichtungen und mit mehr als 400 privaten Pflege- und Rehabilitationszentren so weit entwickelt, dass eine sich in Krisensituationen als erforderlich erweisende stationäre Behandlung wie auch die regelmäßige ambulante Weiterbehandlung der Klägerin als gewährleistet angesehen werden kann. Die erforderlichen Medikamente sind ohne Schwierigkeiten erhältlich. Schließlich ist es auch möglich, im Fall einer Abschiebung der Klägerin in die Türkei eine gegebenenfalls notwendige sofortige Übernahme der Behandlung z.B. durch Absprachen mit der Flughafenpolizei und dem medizinischen Dienst am Flughafen Istanbul sicherzustellen (vgl. zu Letzterem: OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, a.a.O., m.w.N.; vgl. i.Ü.: OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Januar 2007 - 8 A 2005/05.A - und vom 9. Januar 2007 - 8 A 1983/05.A -, beide <juris>).

Die Durchführung der notwendigen Behandlung insbesondere mit Medikamenten würde auch nicht an einer eventuellen Mittellosigkeit der Klägerin scheitern.

Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" (Yesil Kart) ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Inhaber der "Grünen Karte" haben grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung. Mittlerweile können Yesil-Kart-Empfänger Medikamente in allen Apotheken beziehen. In der Übergangszeit zwischen Beantragung und Ausstellung der "Grünen Karte" werden bei einer Notfallerkrankung sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden Ausgaben übernommen. Die stationäre Behandlung von Inhabern der "Grünen Karte" umfasst die Behandlungskosten sowie Medikamentenkosten in Höhe von 80%. Für Leistungen, die nicht über die "Grüne Karte" abgedeckt sind, stehen ergänzend Mittel aus dem jeweils örtlichen Solidaritätsfonds zur Verfügung (Sosyal Yardim ve Dayanisma Fonu). In Bezug auf Mittellose psychisch Kranke ist zusätzlich zu beachten, dass sie auf die Zentraleinrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens oder der Sozialversicherungssysteme angewiesen sind. Dort haben Inhaber der "Grünen Karte" grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung psychisch Kranker. Im akuten Krankheitsfall - wozu psychische Erkrankungen nur dann gehören, wenn unerwartet ärztliche Behandlung erforderlich wird - sind die Behandlungskosten von der "Grünen Karte" gedeckt, ohne dass diese vorliegen muss. Im nicht akuten Fall kann die Behandlung erst nach Erhalt der "Grünen Karte" fortgeführt werden. Es besteht jedoch die Möglichkeit einer Kostenübernahmeerklärung durch deutsche Stellen bis zur Kostenabdeckung durch die "Grüne Karte". Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung von einem Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität, von der Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität, von religiösen Stiftungen, von Verwandten und - für eine Übergangszeit - auch von der Ausländerbehörde zu erbitten (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, a.a.O., m.w.N.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. Oktober 2007, S. 36/37 und Anlage zum Lagebericht).

Mit der Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle Personen, einschließlich der unter 18-jährigen, soll schließlich eine einheitliche gesundheitliche Versorgung aller Bürger mit im Wesentlichen gleichen Bezugsvoraussetzungen und Leistungsansprüchen sichergestellt werden. Außerdem soll das Hausarztsystem flächendeckend ausgedehnt werden (vgl. im Einzelnen: Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 11. April 2010, S. 26 f., und vom 18. April 2011, S. 24 f.).

Dies zugrundegelegt ist zwar nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Klägerin die erforderliche medizinische Behandlung einschließlich der laufenden Arzneimittelversorgung in der Türkei aus finanziellen Gründen versagt bleiben wird.

In der Person der Klägerin liegen jedoch Umstände vor, die es rechtfertigen und erfordern, von einem besonderen Ausnahmefall auszugehen, weil die in der Türkei grundsätzlich vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten eine erhebliche Verschlimmerung ihres Leidens nicht verhindern können.

Nach den Feststellungen des Gutachters Dr. ... in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 23. September 2008 sowie in seinem im Laufe dieses Klageverfahrens auf Veranlassung des Gerichtes erstellten Gutachten vom 13. September 2011 ist das Krankheitsbild der Klägerin angesichts der fortgeschrittenen Chronifizierung einer weiteren Behandlung nicht (mehr) ohne weiteres zugänglich. Mit Blick auf die Frage einer Behandelbarkeit der psychischen Erkrankung in der Türkei besteht deshalb auch nach Einschätzung des Gutachters kein Grund, von einer Abschiebung abzusehen. Die fehlende bzw. stark eingeschränkte Belastungsfähigkeit der Klägerin, ihre Sorge um ihre Kinder und die schwierigen Lebensumstände, die sie in der Türkei erwarten würden, führten aber ausweislich des amtsärztlichen Gutachtens unter Berücksichtigung des spezifischen Krankheitsbildes der Klägerin im Ergebnis dazu, dass im Falle einer Abschiebung mit einer deutlichen Verschlechterung der Depression und einer deutlich erhöhten suizidalen Gefährdung der Klägerin zu rechnen sei. Nach dem Inhalt der Akten und dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Klägerin emotional und in ihrer praktischen Lebensführung zwingend auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. [...] Nach der Einschätzung des Gutachters könnte die hilf- und oft auch orientierungslose Klägerin ohne Unterstützung ihrer Kinder ihren Lebensalltag nicht bewältigen.

Eine vergleichbare Hilfe und Unterstützung könnte die Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei nicht von dort lebenden Familienangehörigen erhalten. [...]

Den Umstand, dass die Klägerin allenfalls gemeinsam mit beiden Kindern in die Türkei zurückkehren könnte, erkennt auch die örtliche Ausländerbehörde im Übrigen ausdrücklich an. Eine Trennung der Klägerin von den Kindern soll - in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt - nicht erfolgen. Insoweit ist daher - nach wie vor - auch lediglich eine gemeinsame Rückführung der Familie beabsichtigt. Diese ist inzwischen aber (wohl) nicht mehr durchführbar.

Die Klägerin müsste sich im Fall einer Rückkehr in die Türkei nach alledem ohne die zwingend erforderliche Hilfe und Betreuung durch ihre Tochter, allenfalls unterstützt durch ihren Sohn, um ihre alltäglichen Bedürfnisse und insbesondere auch ihre medizinische Versorgung einschließlich deren Finanzierung kümmern. Hierzu ist sie aber nachgewiesenermaßen aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage. Dass das Fehlen familiärer Hilfe in ausreichendem Maße durch möglicherweise zu erreichende staatliche Hilfsprogramme aufgefangen werden kann, ist nach den zuvor dargelegten Defiziten der medizinischen Versorgung in der Türkei ebenfalls nicht zu erwarten. Diese Einschätzung wird überdies bestätigt durch den von der örtlichen Ausländerbehörde eingeholten Bericht des Internationalen Sozialdienstes vom 13. Januar 2010, der - selbst bei einer gemeinsamen Rückkehr der Familie - keine adäquate Versorgungsmöglichkeit der Klägerin in der Türkei sieht.

Im Falle der Klägerin kommt zu der fehlenden Aussicht, die in der Türkei grundsätzlich mögliche ärztliche Betreuung und Versorgung auch tatsächlich erreichen zu können, hinzu, dass nach allen ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere auch nach dem amtsärztlichen Gutachten vom 13. September 2011, ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko besteht. [...] Diese Gefahr beschränkt sich insbesondere auch nicht allein auf den Umstand einer möglichen Abschiebung selbst. Ein Suizid wäre nicht die (alleinige) Reaktion auf die Abschiebung, der unter Umständen durch eine engmaschige - von der örtlichen Ausländerbehörde im Verfahren 8 K 328/07 bereits zugesicherte - ärztliche und therapeutische Betreuung in zeitlichem Zusammenhang mit der Rückführung, ggf. auch durch eine zeitweise stationäre Unterbringung, begegnet werden könnte. Derartige Maßnahmen könnten zwar nach Einschätzung des Gutachters unter Umständen eine akute Krise im zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung verringern. Es sei aber die Annahme gerechtfertigt, dass hierdurch die Gefahr einer Suizidhandlung nur zeitlich nach hinten verschoben würde. Denn im Fall der Klägerin würde die Suizidgefahr ausweislich des Gutachtens fortdauern. Grund hierfür ist zum einen die bereits dargelegt Überforderung der Klägerin im Falle einer - getrennten - Rückführung, der sie aufgrund ihrer fehlenden Belastungsfähigkeit nicht standhalten könnte. Zum anderen wäre auch bei einer - gemeinsamen - Rückführung die Suizidgefahr trotz der - nur dann - ausreichenden Betreuung und Versorgung deshalb nicht gebannt, weil sich die Klägerin nach der Einschätzung ihrer behandelnden Fachärztin, die vom Gutachter ausdrücklich getragen wird, verantwortlich für die Abschiebung und die hierdurch bedingte Verschlechterung der Lebensumstände ihrer Kinder fühlen würde und die Suizidgefahr angesichts dieses tiefen Schuldgefühls daher nicht entfiele.

Unter Berücksichtigung aller angeführten Gesichtspunkte und mit Blick auf den Rang des gefährdeten Rechtsguts - des Lebens der Klägerin - gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Klägerin das vom Gutachter angenommene mit einer Rückkehr verbundene Risiko nicht zugemutet werden kann.

Der Klägerin steht vor diesem Hintergrund ein zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 29. März 2010 erweist sich daher ebenso wie die negative Entscheidung zu § 53 AuslG (alt) im Bundesamtsbescheid vom 13. Juni 2003 als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Klage ist mithin in vollem Umfang stattzugeben. [...]