VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 19.01.2012 - 8 L 341/11 - asyl.net: M19399
https://www.asyl.net/rsdb/M19399
Leitsatz:

Erfolgreicher Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (Ehegattennachzug zu einem Ausländer, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist: fehlerhafte Ermessensausübung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, kein Fall des § 39 Nr. 9 AufenthV, Lebensunterhaltssicherung gegeben, kein Entgegenhalten der Nichterfüllung des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bis zu einer Entscheidung des EuGH über die Frage, ob das Erfordernis hinreichender Sprachkenntnisse von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG gedeckt ist).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung, Ermessen, Ermessensfehler, Sicherung des Lebensunterhalts, Lebensunterhalt, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, EuGH, Familienzusammenführungsrichtlinie,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 30 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthV § 39 Nr. 6, AufenthG § 2 Abs. 3, AufenthG § 30 Abs. 1 Nr. 2, RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch begründet. Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes und dem Individualinteresse des Betroffenen an einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung überwiegt vorliegend das Interesse der Antragstellerin, vorläufig von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont zu bleiben. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die Versagung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als offensichtlich nicht rechtmäßig.

Es spricht Vieles dafür, dass die angegriffene Ordnungsverfügung vom 19. Mai 2011 schon deshalb rechtswidrig ist, weil sich der dort zugrunde gelegte Sachverhalt in mehrfacher Hinsicht vom tatsächlichen Sachverhalt unterscheidet und sich dies auch in der rechtlichen Prüfung niedergeschlagen hat. Laut Ordnungsverfügung ist die Antragstellerin mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet, so dass ein Anspruch nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geprüft worden ist. Die Antragstellerin ist allerdings Ehefrau eines Ausländers, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, so dass es um einen Anspruch nach § 30 Abs. 1 AufenthG geht. Auch findet sich in der Ordnungsverfügung nichts über den Status der Antragstellerin als anerkannter Flüchtling i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), obwohl dieser (spätestens) seit der entsprechenden Mitteilung des italienischen Generalkonsulats in Köln vom 23. September 2010 bekannt war, nachdem die Antragstellerin zuvor ihren italienischen Reiseausweis und eine Bestätigung des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) vom 13. Juli 2010 über ihre Anerkennung als Konventionsflüchtling vorgelegt hatte. Vielmehr hat die Ausländerbehörde der Antragstellerin entgegen dem Verbot der Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung aus Art. 33 Abs. 1 GFK und § 60 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AufenthG in der Ordnungsverfügung die Abschiebung in die Republik Kongo angedroht.

Auch wenn die Antragsgegnerin sich im Lauf des Verfahrens inzwischen teilweise korrigiert und die Abschiebungsandrohung geändert hat, so dass sie nunmehr die Abschiebung nach Italien androht, ist anzunehmen, dass insgesamt die Mängel in der Erfassung des tatsächlichen Sachverhalts mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls eine rechtsfehlerhafte Ausübung des Absehensermessens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zur Folge hatten. Die Kammer geht davon aus, dass die Ausländerbehörde hier von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Art und Weise i.S.d. § 114 Satz 1 2. Alt. VwGO Gebrauch gemacht hat. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt nämlich insbesondere auch dann vor, wenn die Behörde von einem unvollständigen oder unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, weil die Zugrundelegung des richtigen Sachverhalts notwendig ist, um für die Interessengewichtung wesentliche und bekannte Umstände zu erkennen und zu berücksichtigen. Steht der Behörde ein falscher Sachvorhalt vor Augen, ist zu befürchten, dass ihr eine ausreichende und sachgerechte Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte nicht möglich ist.

Auf die Frage, ob das Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ermessensfehlerfrei ausgeübt wurde, kommt es für die Entscheidung des Falles an. Die Antragstellerin hätte gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit dem für den erstrebten Aufenthalt erforderlichen Visum bereits einreisen müssen, weshalb im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs nach § 30 Abs. 1 AufenthG das Absehensermessen hätte rechtmäßig ausgeübt werden müssen.

Denn die Antragstellerin war nicht nach § 39 Nr. 6 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) berechtigt, die Aufenthaltserlaubnis erst nach der Einreise im Bundesgebiet einzuholen. Nach dieser Vorschrift kann über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn er einen von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitel besitzt und auf Grund dieses Aufenthaltstitels berechtigt ist, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind. Aus der Formulierung "besitzt" bzw. "berechtigt ist" folgt, dass der Ausländer sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung als auch im Zeitpunkt des Eintritts der letzten Anspruchsvoraussetzung für die Erteilung der von ihm begehrten Aufenthaltserlaubnis noch über die Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet auf Grund des von einem anderen Schengen-Staats ausgestellten Aufenthaltstitels verfügen muss (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Januar 2011 - 18 B 1662/10 -; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 4. Februar 2011 - 10 CS 10.3149, 10 C 10.3090, 10 C 10.3159 -).

Dies ist hier nicht der Fall. Die Gültigkeitsdauer des Schengen-Visums der Antragstellerin (bis zum 20. Mai 2010) war bei Antragstellung am 1. Juni 2010 bereits abgelaufen. Die durch ihre (verspätete) Antragstellung ausgelöste Aussetzungsfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vermittelt den nach § 39 Nr. 6 AufenthV erforderlichen Aufenthaltsstatus nicht.

Auf die Frage der rechtsfehlerfreien Ermessensausübung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kommt es auch deshalb an, weil die in diesem Fall für einen Anspruch nach § 30 Abs. 1 AufenthG zu prüfende allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) - inzwischen - erfüllt ist (siehe unten a)) und weil die Voraussetzung, dass die Antragstellerin sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) im Rahmen dieses Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes aus rechtlichen Gründen außer Betracht bleiben muss (siehe unten b)).

a) Die Antragstellerin erfüllt - nunmehr - die für die begehrte Aufenthaltserlaubnis in der Regel erforderliche allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Sie ist inzwischen in der Lage, ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu decken.

Was unter der für den Aufenthaltstitel vorausgesetzten Sicherung des Lebensunterhalts zu verstehen ist, ergibt sich im Einzelnen aus § 2 Abs. 3 AufenthG. Danach ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs und des zur Verfügung stehenden Einkommens richtet sich bei - wie hier - erwerbsfähigen Ausländern nach den entsprechenden Bestimmungen des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -, BVerwGE 131, 370; Funke- Kaiser in GK - AufenthG, a. a. O., Stand Mai 2010, § 2 Rdnr. 43ff.).

Nach der Tabelle zur Verordnung zur Durchführung des § 28 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (Regelsatzverordnung - RSV -), aus der die Regelleistung des § 20 SGB II folgt, hat die Antragstellerin einen Grundbedarf von 337,- EUR pro Monat (gemäß der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 SGB II für die Zeit ab 1. Januar 2012 vom 20. Oktober 2011 - BGBl. I S. 2093 -, Bedarfssatz für zwei Partner der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, § 20 Abs. 4 SGB II). Hinzu kommt der gleich hohe Regelsatz für den Ehemann der Antragstellerin, so dass sich insgesamt ein Regelsatzbetrag der Bedarfsgemeinschaft von 674,- EUR ergibt. Der Regelbedarf umfasst gemäß § 20 Abs. 1 SGB II insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne die ggf. auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile) sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zusätzlich ist gemäß § 22 SGB II der Bedarf für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen (ggf. abzüglich der im Regelsatz enthaltenen Warmwasserkosten) zu veranschlagen. Diese Kosten der Wohnung belaufen sich nach Aktenlage auf 510,33 EUR, so dass sich ein Gesamtbedarf von 1184,33 EUR monatlich ergibt. Diesem Bedarf steht ein Einkommen von insgesamt 1205,60 EUR gegenüber, so dass das Einkommen den Bedarf deckt, wobei etwaige Ungenauigkeiten im Hinblick auf die Art der Heizung und Warmwassererzeugung in der Wohnung der Antragstellerin hier vernachlässigt werden können, zumal auch die Ausländerbehörde des Antragsgegners in ihrem Berechnungsbogen insoweit keine Differenzierung vornimmt. Das Einkommen berechnet sich wie folgt: Die Antragstellerin und ihr Ehemann erhalten aus einer geringfügigen Beschäftigung jeweils 399,10 EUR (= 798,20 EUR); der Ehemann erzielt zusätzlich aus einer weiteren Beschäftigung ein monatliches Nettoeinkommen von 650,- EUR. Insgesamt ergibt dies ein Haushaltseinkommen von 1449,20 EUR, das sich allerdings um die Abzüge nach § 11 b Abs. 2 SGB II und § 11 b Abs. 3 SGB II vermindert (vgl. (zu § 11 SGB II alter Fassung) BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -).

Der Abzug nach § 11 b Abs. 2 SGB II beträgt 100,- EUR, der nach § 11 b Abs. 3 SGB II 143,59 EUR. Nach Abzug dieser Beträge verbleibt ein Einkommen von 1205,60 EUR.

b) Gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, dass der Ausländer sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.

Seit der Einführung dieser Voraussetzung ist streitig, ob die Vorschrift von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 ("Familienzusammenführungsrichtlinie") gedeckt ist und mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat dies zunächst bejaht und darauf abgehoben, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie es erlaube, dass sich Nachziehende bestimmten Integrationsmaßnahmen unterziehen müssten, zu denen auch das Erfordernis hinreichender Sprachkenntnisse gehöre. Es hat von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) abgesehen (BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 - 1 C 8.09 - ,BVerwGE 136, 231 = NVwZ 2010, 964 = InfAuslR 2010, 331), sich nunmehr allerdings auf den Standpunkt gestellt, die Frage hätte dem EuGH zur Klärung vorgelegt werden müssen (BVerwG, Beschluss vom 28. Oktober 2011 - 1 C 9.10 -).

Diese Auffassung geht auf die zwischenzeitlich erfolgte Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 4. Mai 2011 in dem beim EuGH anhängig gewesenen Verfahren C-155/11 (Imran) zurück, wonach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie so ausgelegt werden müsse, dass dieser es verbiete, einem Betroffenen ausschließlich aus dem Grund die Einreise und den Aufenthalt zu verweigern, dass dieser die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgeschriebene Eingliederungsprüfung im Ausland nicht bestanden habe. Letztlich wäre demzufolge die Ablehnung eines Nachzugs allein wegen des Fehlens der Sprachanforderungen mit der Familienzusammenführungsrichtlinie unvereinbar, und es bedürfte stets einer Einzelfallabwägung auf der Grundlage des Art. 17 der Richtlinie.

Die Kammer sieht sich daher außerstande, bis zu einer Entscheidung des EuGH über diese Frage davon auszugehen, dass einem Ausländer die Nichterfüllung der Voraussetzung des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen gehalten werden kann. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht angezeigt. Eine Vorlage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts kann im Hauptsacheverfahren erfolgen. [...]