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VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 27.01.2012 - 2 K 1823/11.GI.A - asyl.net: M19410
https://www.asyl.net/rsdb/M19410
Leitsatz:

Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, droht bei Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung.

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingseigenschaft, Auslandsaufenthalt, Asylantrag, Willkür, Verhaftung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Kriterien und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Entwicklung derzeit nicht absehbar ist, droht der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010 (S. 16, 19 f.) werden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens (BGBl. II 2008, S. 811, 2009, S. 107) nach Syrien zurückgeführt werden, bei ihrer Einreise zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt. Diese Befragungen können sich über mehrere Stunden hinziehen und häufiger wird zu einer weiteren Befragung einbestellt. In einigen Fällen werden Einreisende durch die Behörden bis zu zwei Wochen festgehalten und vereinzelt kommt es auch zu Inhaftierungen un-mittelbar bzw. kurz nach der Rückführung. Im vorgenannten Lagebericht sowie im Bericht des Bundesamts vom April 2011 (Informationszentrum Asyl- und Migration - Syrien: Asylrelevante Informationen, Rückübernahmeabkommen, Identitätspapiere, Asyl-Like-Minded-Group und aktuelle Situation) sowie in den Stellungnahmen des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom 25.11.2009 und 14.02.2010 an Herrn Rechtsanwalt Walliczek in Minden sowie in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage betreffend die Inhaftierung von abgeschobenen Syriern in Damaskus vom 22.10.2010 (BT-Drucksache 17/3365) wird von mehreren Fällen berichtet, in denen es zu Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückkehr bzw. -führung gekommen ist. Es handelt sich dabei um zwischen August 2009 und Februar 2011 nach Syrien zurückgekehrte Personen. Nach diesen Erkenntnissen ist festzustellen, dass es bereits in der Zeit vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung ab März/April 2011 zu Fällen willkürlicher Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei rückgeführten syrischen Staatsangehörigen gekommen ist, wobei sich ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - juris). Während der Haftzeit kommt es zu körperlichen und psychischen Misshandlungen, wobei sich die Anhaltspunkte dafür mehren, dass es offenbar auch schon bei Inhaftierungen von weniger als zwei Wochen zu Misshandlungen bis hin zur Anwendung von Folter kommt (vgl. VG Regensburg, Urt. v. 09.03.2011 - RO 6 K 10.30350 - juris; VG Köln, Urt. v. 21.06.2011 - 20 K 6194/10.A - juris).

Die Gefährdungslage hat sich bei Rücküberstellungen nach Syrien zur Überzeugung des Gerichts infolge der dortigen aktuellen politischen Entwicklungen zunehmend verschärft. Spätestens seit den Massenprotesten in Daraa im April 2011 kann von einer Revolte gesprochen werden, die von den Sicherheitskräften blutig und mit allen Mitteln bekämpft wird (vgl. dazu die Ausführungen im Urteil des VG Stuttgart vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - a.a.O., m.w.N.). Den Protesten wurde unmittelbar mit äußerster Härte begegnet, es wurde wahllos in die Menschenmenge geschossen, von Beginn an brachte jede Demonstration in den arabischen Gebieten Tote mit sich. Stadtteile und Städte wie etwa Daraa und Banias wurden von Armeepanzern und Sicherheitskräften abgeriegelt und ohne Strom, Wasserversorgung, Telefon- und Internetverbindung gelassen; es gab nächtliche Hausdurchsuchungen mit Verhaftungen und Verschleppungen von Regimegegnern. Im Juni 2011 soll sich nach Zeitungsberichten die Zahl der Getöteten auf 1.500, die der Verhafteten auf 10.000 belaufen haben, im August sprechen die Quellen bereits von über 2.000 Toten und von 13.000 von der Geheimpolizei festgenommenen und 3.000 verschwundenen Personen. Die Verhaftungen und die Gewalt machten auch vor alten Menschen, sogar vor Kindern nicht Halt. Dabei verstärkten die syrischen Sicherheitskräfte auch ihr Vorgehen gegen Ärzte und Krankenhäuser, die sich um verletzte Demonstranten kümmern (vgl. VG Magdeburg, GB v. 24.08.2011 - 9 A 152/10 -, juris, m.w.A. zu Quellen aus allgemein zugänglichen Medien). Die Dramatik der Lage zeigt auch die Tatsache, dass 10.000 Syrer in die Türkei flohen. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der dem syrischen Regime offensichtlich missfällt, denn es wird auch wiederholt davon berichtet, die Armee versperre den Menschen die Flucht in die Türkei, alle Wege zum Grenzgebiet seien abgesperrt (vgl. VG Magdeburg, GB v. 24.08.2011 - 9 A 152/10 - a.a.O., m.w.N.). Nach aktuellen Schätzungen der UNO hat das brutale Vorgehen der Armee und der Sicherheitskräfte bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen im ganzen Land mittlerweile mehr als 5.000 Menschen das Leben gekostet (Bericht der SZ v. 14.12.2011).

Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Situation gehen inzwischen mehrere Gerichte davon aus, dass Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich lange Zeit im Ausland aufgehalten haben, noch stärker als bisher Veranlassung zur Überprüfung geben werden, ob sie Gegner des syrischen Regimes sind oder ob von ihnen eine weitere Verschärfung der innerstaatlichen Probleme erwartet werden kann - mit der geschilderten Gefahr von Inhaftierung und menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Geheimdienst (VG Stuttgart, Urt. v. 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - a.a.O.; VG Köln, Urt. v. 21.06.2011 - 20 K 6194/10.A -; VG Göttingen, Urt. v. 25.08.2011 - 2 A 402/10 - juris; VG Lüneburg, Urt. v. 17.11.2011 - 4 A 68/11 - juris; VG Magdeburg, GB v. 24.08.2011 - 9 A 152/10 -, a.a.O.; VG Aachen, Urt. v. 21.10.2011 - 9 K 1005/10.A -juris). Die erkennende Kammer teilt die in der vorgenannten Rechtsprechung zum Ausdruck gebrachte Einschätzung und sieht auch nach Unterzeichnung des Abkommens des Regimes von Präsident Baschar al-Assad mit der Arabischen Liga und der Entsendung einer Beobachtermission am 27.12.2011 keine Änderung der Gefährdungslage für rückkehrende Asylbewerber. Insoweit fällt ins Gewicht, dass das Regime auch in der jüngsten Vergangenheit zwei Gesichter zeigte: neben der Brutalität reagierte es auch mit beschwichtigenden Maßnahmen, wie Freilassung politischer Gefangener und mit Ankündigungen, wie dem Aufheben der Notstandsgesetze, dem Austauschen der Regierung, der Ankündigung von Treffen mit der Opposition sowie vorgezogenen Parlamentswahlen; indes trat auch nach Umsetzung einiger Ankündigungen keine Änderung in Bezug auf das Verhalten der Sicherheitskräfte bei Demonstrationen und der Verfolgung von Regimegegnern ein. Die syrische Führung hatte formell bereits Anfang November einem von der Arabischen Liga ausgehandelten Krisenplan zugestimmt, seitdem aber wiederholt gegen die Vorgaben verstoßen. So töteten die Sicherheitskräfte nach Angaben von Human Rights Watch allein in der Protesthochburg Homs mehr als 100 Menschen (Bericht der SZ "Letzte Frist für Syrien" v. 15.11.2011). Nach Angaben der Vereinten Nationen war der November 2011 der bisher "blutigste" Monat (vgl. Spiegel online v. 15.11.2011). Am selben Tag, an dem das Regime das aktuelle Abkommen unterzeichnet hat, verübte die Armee ein Massaker mit mehr als 120 Opfern, darunter viele Deserteure (Bericht Die Zeit v. 29.12.2011). Trotz Anwesenheit von Abgesandten der Arabischen Liga geht das Regime nach Informationen von Menschenrechtlern weiter mit Härte gegen die Opposition im Lande vor. So sollen bei einem erneuten Gewaltausbruch landesweit mindestens 13 Menschen, darunter Demonstrierende, getötet worden sein (Bericht der FR v. 30.12.2011). Nach Angaben von Aktivisten des Örtlichen Koordinationskomitees wurden am 31.12.2011 mindestens sechs Men-schen erschossen, bereits am Tag zuvor seien mindestens 27 Menschen getötet worden, für den 01.01.2012 wird von 16 getöteten Menschen berichtet. Inzwischen hat die Arabische Liga offiziell eingeräumt, dass die Sicherheitskräfte von Präsident Assad weiterhin auf Regimegegner schießen (Bericht der SZ vom 03.01.2012). Wegen des weiterhin brutalen Vorgehens syrischer Sicherheitskräfte gegen Oppositionelle forderte das an die Arabische Liga angeschlossene Arabische Parlament am 01.01.2012 "angesichts der andauernden Tötung unschuldiger Zivilisten" einen sofortigen Abbruch des aktuellen Beobachter-Einsatzes. Der Präsident des Arabischen Parlaments, Salem al-Dikbassi sagte, die Beobachter würden vom syrischen Regime lediglich als Deckung missbraucht, hinter der es sein "menschenverachtendes Vorgehen" fortsetze. Die syrische Protestbewegung warnt zudem - nach Einschätzung des Gerichts zu Recht - vor Täuschungsmanövern des Regimes. Bereits in der letzten Dezemberwoche des vergangenen Jahres hatten Menschenrechtler berichtet, dass das Regime Gefangene umverlege und Panzer abziehe, sobald die Beobachter einen Ort erreichten, um ein falsches Bild der Lage zu vermitteln. Nach Angaben von Human Rights Watch soll die Regierung politische Gefangene zu Hunderten aus Haftanstalten in militärische Einrichtungen gebracht haben, zu denen die Experten der Beobachterkomission keinen Zugang hätten. Nach Angaben der Protestbewegung bringen die Sicherheitskräfte Assads die Entsandten in falsche Ortschaften. So hätten die Sicherheitskräfte Namen von Dörfern und Straßen geändert, um den Beobachtern vorzutäuschen, sie besuchten die Hochburgen des Aufstandes (vgl. zum Ganzen: Berichte der Deutschen Welle vom 02.01.2012; FR vom 02.01.2012; taz vom 30., 31.12.2011 und 02.01.2012; Spiegel online vom 02.01.2012; SZ vom 31.12.2011 und 02.01.2012). [...]

Für die Klägerin kommt erschwerend hinzu, dass sie aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes erheblichen Gefahren allein durch die Behandlung seitens des syrischen Geheimdienstes bei einer Einreise ausgesetzt ist. Denn ein Zugang zu ärztlicher Versorgung und Medikamenten ist hier nicht gewährleistet. [...]