VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 25.08.2011 - 35 K 202.11 - asyl.net: M19416
https://www.asyl.net/rsdb/M19416
Leitsatz:

1. Es ist unverändert davon auszugehen, dass der Libanon die Rückkehr staatenloser Palästinenser verhindern möchte und ihnen deshalb grundsätzlich kein Laissez-Passer ausstellt (und sich auch einem Rückübernahmeabkommen mit Deutschland nach wie vor widersetzt);

2. Seit 2010 ist bundesweit kein Fall einer gelungenen freiwilligen Rückkehr staatenloser Palästinenser in den Libanon bekannt geworden und dokumentiert; selbst Straftäter libanesischer Staatsangehörigkeit

werden von den dortigen Behörden nicht mehr übernommen;

3. Die Ausländerbehörde darf nichts erkennbar Aussichtsloses wie die Vorlage einer Bescheinigung der

libanesischen Botschaft über einen konkret bei ihr gestellten Antrag verlangen; auch der Erwerb eines

Flugtickets für jede Botschaftsvorsprache ist unzumutbar;

4. Geht die Ausländerbehörde gleichwohl von einer zumindest geringfügigen Chance für eine freiwillige Rückkehr in den Libanon aus, muss sie entweder die vom Ausländer ausgefüllten Antragsunterlagen selbst bei der Botschaft einreichen und den Rücklauf überwachen oder - da eine andere Beweisführung nicht möglich ist - den Ausländer mit einem Beamten zur Botschaft begleiten, um die von ihm geforderte ordnungsgemäße Antragstellung zu überprüfen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, Mitwirkungspflicht, freiwillige Ausreise, tatsächliche Unmöglichkeit, Laissez-Passer, Passbeschaffung, Rückkehr, Rückkehrmöglichkeit, Zumutbarkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, AufenthG § 11 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Versagung durch den Bescheid des LABO vom 25. März 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist, § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

1. Die Identität des Klägers als staatenloser Palästinenser ist durch Vorlage der von der Ausländerbehörde überprüften und als authentisch eingestuften ID-Karte Nr. 54228 D in Verbindung mit der UNRWA Registration Card unzweifelhaft. Berechtigte und konkrete Zweifel an der Echtheit der vorgelegten Dokumente (Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin - VAB - E Libanon 1, E.Lib.1, Stand 29. Juni 2006, II. 2.), die eine weitere Überprüfung erforderlich machen würden, bestehen nicht; demzufolge wird die palästinensische Volkszugehörigkeit des Klägers nach geltender Verwaltungspraxis durch die ID-Karte und die UNRWA-Registrierungskarte belegt (VAB, a.a.O.). Damit in Übereinstimmung bestätigte auch der seit 2001 für die Passbeschaffung zuständige Beamte der Berliner Ausländerbehörde im Verfahren OVG 3 B 2.08 vor dem OVG Berlin-Brandenburg (vgl. Urteil vom 14. September 2010, juris), dass ihm derartige Dokumente, die er im Falle des Klägers persönlich der Ausländerakte (Hülle Bl. 6) zwecks Passbeschaffung entnommen hat, als Identitätsnachweise ausreichten und er diese regelmäßig zusammen mit den ausgefüllten Passanträgen an die libanesische Botschaft übersende (Bl. 2 f. der OVG-Sitzungsniederschrift vom 11. Mai 2010, Streitakte Bl. 67 R f.; s.a. VAB a.a.O., I. 3.). Von daher ist die Feststellung in dem angefochtenen Bescheid vom 25. März 2011, die Identität des Klägers sowie seine Staats- und Volkszugehörigkeit beruhten lediglich auf seinen eigenen Angaben, nicht nachvollziehbar.

2. Nach den bisherigen Erkenntnissen des Beklagten, die sich mit denen des Gerichts decken, ist bei staatenlosen Palästinensern aus dem Libanon wie dem Kläger grundsätzlich von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise und Abschiebung auszugehen und mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses regelmäßig auch in absehbarer Zeit nicht zu rechnen (VAB E Libanon 3, Stand 6. April 2009, Absatz 1). Daran ändert sich auch nichts durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. September 2010 (OVG 3 B 2.08, juris). Zwar war es nach den damals diesem Gericht vorliegenden Erkenntnissen für einen ausreisepflichtigen staatenlosen Palästinenser aus dem Libanon "nicht von vornherein erkennbar aussichtslos, bei der libanesischen Botschaft ein Dokument für die Heimreise zu erhalten" (OVG Berlin-Brandenburg a.a.O., juris, Rn. 35 ff.), so dass den Betroffenen entsprechende Bemühungen zumutbar wären. Schon aus der Formulierung "nicht von vornherein erkennbar aussichtslos" folgt jedoch, dass jedenfalls im Grundsatz auch heute davon auszugehen ist, dass staatenlose Palästinenser im Libanon nach wie vor unerwünscht sind und deshalb ihre Rückkehr von den zuständigen Behörden verhindert wird. Die Berliner Ausländerbehörde vermisst in diesem Sinne weiterhin jede Erkenntnis dazu, "inwieweit die libanesischen Behörden bereit sein werden, allen ausreisepflichtigen palästinensischen Volkszugehörigen ungeklärter Staatsangehörigkeit entsprechende Heimreisedokumente auszustellen… Vielmehr ist für die bisherigen Titelinhaber davon auszugehen, dass für die Vielzahl dieser Personen die freiwillige Rückkehr tatsächlich ausgeschlossen bleibt…" (VAB E Libanon 3, E.Lib.3., Stand 25. Januar 2011, Abs. 6). Entgegen der dem vorgenannten Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 14. September 2010 zugrunde liegenden Erkenntnislage, dass in den Jahren 2008 und 2009 aus Berlin jeweils zwei Palästinenser freiwillig in den Libanon ausgereist seien (a.a.O., juris, Rn. 36) und darüber hinaus das bundesweite Zentrale Ausländerinformationsportal (ZAIPort Dokumentation Pass) mehrere Fälle aus der jüngeren Vergangenheit nachgewiesen habe, in denen staatenlosen Palästinensern aus dem Libanon die Beschaffung von Heimreisedokumenten gelungen sei (a.a.O., juris, Rn. 37), sind derartige Fälle - nach heutiger Darstellung des Beklagten im vorliegenden Verfahren - ab 2010 weder in Berlin bekannt noch im ZAIPort erfasst. Auf die vom Beklagten in den Vorjahren eingereichten Nachweise kommt es demgegenüber nicht an, da sie wenig über die maßgebliche gegenwärtige Praxis der libanesischen Behörden besagen (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., juris, Rn. 38). Im Übrigen stocken nach wie vor die Verhandlungen zwischen Deutschland und dem Libanon über ein Rückübernahmeabkommen, wobei sich die bisherigen Verfahrensabsprachen sogar ohnehin nur auf libanesische Staatsangehörige bezogen (vgl. Erlass des Innenministeriums von NRW vom 3. Februar 2004, abrufbar unter www.emhosting.de/kunden/fluechtlingsrat-nrw.de/system/upload/download_781.pdf). Aus dieser Verzögerungs- und Verweigerungshaltung von Seiten der libanesischen Regierung bestätigt sich das Fehlen einer Aufnahmebereitschaft insbesondere von staatenlosen Palästinensern wie dem Kläger. Selbst bei Straftätern, für die früher von der libanesischen Botschaft noch eher ein Laissez-Passer ausgestellt worden sei (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., juris, Rn. 36 a.E.), beklagte der Berliner Innensenator im Mai 2011

sechzehn Fälle, in denen die Ausländerbehörde "teilweise seit 2003" vergeblich bei den libanesischen Behörden die Aufnahme ihrer Landsleute gefordert habe ("Der Tagesspiegel" vom 7. Mai 2011, Streitakte Bl. 31).

3. Anhaltspunkte dafür, dass im Falle des Klägers bei noch stärkeren Rückkehrbemühungen eine Ausnahme von diesen Erfahrungswerten bestehen könnte, sind nicht ersichtlich und vom Beklagten auch nicht dargetan. Der zuständigen Clearingstelle der Ausländerbehörde ist es trotz neunjähriger Bemühungen bis heute nicht gelungen, bei der libanesischen Botschaft ein Laissez-Passer für den Kläger zu erhalten. Er selbst hat unstreitig mehrfach bei der Botschaft vorgesprochen und nach eigenen Angaben jeweils ein Laissez-Passer beantragt, wobei es glaubhaft erscheint, dass er darüber keine Bescheinigung erhält, sondern letztlich immer wieder bewusst unverrichteter Dinge weggeschickt wird und mangels anderer in der Botschaft ausliegender Hinweisblätter nur solche für die Beantragung eines DDV und nicht für ein Laissez-Passer vorlegen kann. Den vom Beklagten geforderten Urkundenbeweis über einen Antrag auf Ausstellung eines Laissez-Passer vermag er mithin grundsätzlich gar nicht zu führen. Auch die beim LaGeSo für die Rückkehr- und Weiterberatungsstelle zuständige Mitarbeiterin hat gegenüber dem OVG Berlin-Brandenburg bestätigt, dass Nachfragen und Anträge bei der libanesischen Botschaft ihres Wissens nicht schriftlich bestätigt würden (Sitzungsniederschrift im Verfahren OVG 3 B 2.08 vom 11. Mai 2010, Seite 17; Streitakte Bl. 75). Außerdem ist es ihm nicht zumutbar, als Sozialhilfeempfänger bei jeder Botschaftsvorsprache zum Nachweis seiner angeblichen Rückkehrbereitschaft einen Flug in den Libanon kaufen (vgl. zu diesem Erfordernis das Hinweisblatt der Ausländerbehörde, Streitakte Bl. 15). Denn wenn der Ausländer auf eigene Verantwortung ein Flugticket kauft und die Beiruter Sicherheitsbehörden die auch bei selbständiger Dokumentenbeschaffung durch den Ausländer erforderliche Einreisegenehmigung nicht erteilen oder der Ausländer aus sonstigen Gründen den Flug nicht antreten kann, bleibt er auf den Kosten für das Flugticket sitzen (Aussage des für die Passbeschaffung zuständigen Beamten der Berliner Ausländerbehörde im Verfahren OVG 3 B 2.08, Bl. 3 der Sitzungsniederschrift vom 11. Mai 2010; Streitakte Bl. 68).

4. Nach alledem liegen keine verifizierbaren Erkenntnisse darüber vor, dass der Kläger als staatenloser Palästinenser aus dem Libanon durch weitere zumutbare und dokumentarisch belegbare Bemühungen bei der libanesischen Botschaft eine ernsthafte Chance hätte, ein Laissez-Passer für die Rückkehr in den Libanon zu erhalten (a.A. unter Berufung auf das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 14. September 2010, a.a.O., juris: VG Berlin, Urteil vom 17. August 2011 - VG 16 K 238.09 -, juris). Auf unabsehbare Zeit Forderungen aufzustellen, deren Erfüllbarkeit völlig ungewiss, sogar in höchstem Maße zweifelhaft und zudem nach jeweils nur wenigen Fällen in 2008 und 2009 nunmehr seit 2010 in keinem einzigen Fall mehr belegbar ist, widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen. Bereits der Begriff der Zumutbarkeit in § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG schließt es aus, einem Ausländer von vornherein erkennbar aussichtslose Handlungen - wie die Vorlage von Bescheinigungen der libanesischen Botschaft über bestimmte dort gestellte Anträge - abzuverlangen (BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 2006 - 1 B 54.06 -, Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 4, Rn. 4; Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 8.98 -, BVerwGE 108, 21, 29, zu § 30 Abs. 4 AuslG; OVG Berlin - Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2007 - OVG 3 B 34.05 -, juris, Rn. 47). Wenn der Beklagte demgegenüber tatsächlich der Auffassung ist, es bestehe die zumindest geringfügige Chance für eine freiwillige Rückkehr in den Libanon, mag er entweder - wie im Falle des Klägers erfolglos geblieben - die Antragsunterlagen selbst bei der Botschaft einreichen und den Rücklauf überwachen; oder aber er müsste - da eine andere Beweisführung nicht möglich ist - den Ausländer mit einem Beamten zur Botschaft begleiten, um die von ihm geforderte ordnungsgemäße Antragstellung zu überprüfen (wozu er aber nach eigenem Bekunden mangels personeller Kapazitäten nicht bereit ist). Letztlich bedarf es einer klaren Grundlage für staatliches Handeln in Form von Rückführungen auch gegen den Willen der Betroffenen, die ausschließlich durch das weiterhin ausstehende Abkommen mit dem Libanon auf politischer Ebene geschaffen werden kann. Das gegenwärtig praktizierte Verfahren jedoch läuft auf ein zeitlich unbefristetes Drängen hinaus, unüberprüfbare und mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ohnehin aussichtslose Anstrengungen zu unternehmen (wobei die Differenzierung des Beklagten zwischen neu eingereisten Palästinensern, denen dieses Verfahren zugemutet wird, und denjenigen, die bereits über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG verfügen und bei denen weiterhin die freiwillige Rückkehr als ausgeschlossen gewertet wird [VAB E Libanon 3, E.Lib.3., Stand 25. Januar 2011, Abs. 6], als willkürlich erscheint). Das Ergebnis ist ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes jahrelanges Ausbildungs- und Berufsverbot mit ungewissen Zukunftsperspektiven für die Betroffenen (verbunden mit der Gefahr des Abgleitens in die Kriminalität) und hohen Belastungen für das Gemeinwesen durch vermeidbare Sozialhilfekosten.

5. Ist nach alledem davon auszugehen, dass im Falle des Klägers mangels einer freiwilligen Rückkehrmöglichkeit (wobei mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist) und nach mehr als 18-monatiger Duldung die gesetzlichen Voraussetzungen für die Sollvorschrift zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vorliegen, so ist das Ermessen der Ausländerbehörde zu Gunsten des Klägers auf Null reduziert. Denn entgegenstehende Ausweisungsgründe nach den §§ 53 oder 54 AufenthG liegen in seinem Falle nicht vor (VAB E Libanon 3, E.Lib.3, Stand 25. Januar 2011, Abs. 8), und sachliche Gründe, auf der (mangels Arbeitserlaubnis nicht zu leistenden) Lebensunterhaltssicherung und der (mangels Staatsangehörigkeit ebenfalls unmöglichen) Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG) zu bestehen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), sind nicht erkennbar. [...]