In der Provinz Kadahar (Afghanistan) besteht ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung, dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch ohne gefahrerhöhende Umstände vorliegen.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht für den Kläger bezogen auf seine Herkunftsregion in Afghanistan eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Vor dieser Gefahr kann der Kläger auch in anderen Teilen von Afghanistan keinen internen Schutz gemäß Art. 8 Qualifikationsrichtlinie finden.
Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus einem Ort im Distrikt Spin Buldak in der im südlichen Teil von Afghanistan gelegenen Provinz Kandahar. Dort hat er mit seinen Eltern seit seinem fünften Lebensjahr gelebt und hat dort bis zu seiner Ausreise seinen wesentlichen Lebensmittelpunkt innegehabt. Der Distrikt Spin Buldak, der überwiegend von Paschtunen besiedelt ist, grenzt unmittelbar an Pakistan. Die gleichnamige Stadt Spin Buldak liegt auf der Haupttransportroute von Pakistan in den Süden von Afghanistan. Die Provinz Kandahar hat eine Fläche von rund 54.022 qm und eine Einwohnerzahl von rund 1.070.000. Die Bevölkerungsdichte liegt etwa bei 19,8 Einwohnern pro Quadratkilometer. Im Distrikt Spin Buldak leben rund 168.400 Einwohner. Die Provinz ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte.
Nach vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass in der Herkunftsregion des Klägers (Distrikt Spin Buldak im der Provinz Kandahar) ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im vorgenannten Sinn stattfindet. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 09. Februar 2011, Stand: Februar 2011 (Lagebericht) ist seit 2006 eine stete Zunahme sicherheitsrelevanter Vorfälle zu beobachten. Aufgrund der militärischen Operationen besonders im Südwesten und Süden des Landes (Helmand und Kandahar) war auch für 2010 ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen. United Nations Mission in Afghanistan (UNAMA) berichtet, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 % angestiegen ist. Für den Anstieg verantwortlich sind insbesondere regierungsfeindliche Kräfte (+53 %), während bei Pro-Regierungskräften ein Rückgang von 30 % zu verzeichnen ist. Dabei variiert die Sicherheitslage regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt. Während im Südwesten, Süden und Südosten des Landes die Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind. Über 90 % aller sicherheitsrelevanter Zwischenfälle im Land beschränken sich auf zwei der 34 Provinzen: Helmand und Kandahar. [...]
Angesichts dieser übereinstimmenden Beurteilungen weist der in der Provinz Kandahar stattfindende innerstaatliche Konflikt unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien zur Überzeugung des Gerichts ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die dortige Zivilbevölkerung auf, dass der Kläger auch ohne gefahrerhöhende Umstände in seiner Person im Falle einer Rückkehr tatsächlich Gefahr liefe, dort allein als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung an Leib oder Leben ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung belegt auch der Bericht des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) vom zweiten Quartal 2011. Danach sind allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2011 1.856 Zivilisten getötet worden. Die Provinz Kandahar war mit 724 Angriffen im ersten Halbjahr 2011 neben Helmand (1430) und Ghazni (743) eine der Provinzen, in der sich die meisten Angriffe der regierungsfeindlichen Gruppen ereignen. Dies bedeutet also im Schnitt etwa 4 Anschläge pro Tag. Gegenüber dem zweiten Quartal 2009 liegt eine Steigerung um 79 % vor. Im Jahr 2010 fanden in der Provinz Kandahar 1.162 Angriffe Aufständischer statt. Diese Zahl wurde in diesem Zeitraum nur in den Provinzen Helmand (1.540) und Kunar (1.457) übertroffen. ANSO stuft die Provinz Kandahar wegen der Häufigkeit der täglichen Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen als "extremely insecure" (äußerst unsicher) ein. Hinzu kommen die in den südlichen Landesteilen überdurchschnittlich zahlreichen Einsätze der US-, ISAF und Regierungskräfte, die ebenfalls häufig zu zivilen Opfern führen. UNAMA (Civilian Casualty Data 2008-2010) berichtet von 1.310 getöteten Zivilisten in der Südregion im Verhältnis zu 2777 Toten bezogen auf Gesamt-Afghanistan. Bezogen auf den Distrikt Spin Buldak ist bekannt, dass Anfang Januar 2011 ein Selbstmordattentäter in einem öffentlichen Badehaus der Stadt Spin Buldak nach offiziellen Angaben 17 Menschen getötet und 23 weitere verletzt hat (vgl. Spiegel Online vom 07. Januar 2011).
Angesichts dieser hohen Anschlagsdichte in der Provinz Kandahar und der Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten {deren Dunkelziffer nach der Schilderung des Gutachters Dr. Danesch im Verfahren des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 25. August 2011 - 8 A 1659/10.A -) deutlich höher ist als die von den von unabhängigen Organisationen abgegebenen Zahlen} steht für das Gericht unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Zahlenmaterials und der Berichte zur Sicherheitslage fest, dass der Konflikt in der Provinz Kandahar eine so hohe Gefahrendichte willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung erreicht, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region jederzeit mit einer nicht mehr zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist (vgl. ebenso für die Provinz Kandahar: VG Schleswig, Urteil vom 22. April 2010, 12 A 137/09).
Der Kläger kann schließlich nicht gemäß § 60 Abs. 11 i.V.m. Art. 8 Qualifikationsrichtlinie auf einen internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan verwiesen werden. Nach Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Antragsteller keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Landesteil diese Voraussetzungen erfüllt, sind nach Absatz 2 die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen. Von dem Betroffenen kann nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhalte, wenn er am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d. h. es muss jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht dort das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Das gilt auch wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07, NVwZ 2008, 1246 und vom 24. Juni 2008 a.a.O.).
Nach Einschätzung des UNHCR kommt eine interne Schutzalternative grundsätzlich nur dann als zumutbare Alternative in Betracht, wenn Schutz durch die eigene erweiterte Familie, durch die Gemeinschaft oder durch den Stamm des Betroffenen in dem für die Neuansiedlung vorgesehenem Gebiet gewährleistet ist. Alleinstehende Männer und Kernfamilien können unter gewissen Umständen ohne Unterstützung von Familie oder Gemeinschaft in städtischen und semi-urbanen Gegenden mit entwickelter Infrastruktur und unter effektiver Kontrolle der Regierung leben (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (zusammenfassende Übersetzung), 24. März 2011, S. 14 f.).
Für das Auswärtige Amt (AA) hängt die Möglichkeit des Ausweichens einer Person vor möglicher Gefährdung auf andere Landesteile maßgeblich von dem Grad der sozialen Vernetzung sowie der Verwurzelung im Familienverband oder Ethnie ab (AA, Lagebericht vom 9. Februar 2011, S. 26).
Nach der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bildet die Familien- und Gemeindestruktur in Afghanistan auch heute noch das wichtigste Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben. Ohne diese ist ein Überleben kaum möglich (Afghanistan: Update vom 23. August 2011, S. 20).
Diese Voraussetzungen sind für den Kläger in anderen Landesteilen Afghanistans, insbesondere in dem wohl allein für einen internen Schutz in Frage kommenden Bereich der Hauptstadt Kabul angesichts der dortigen katastrophalen Versorgungslage, der angespannten Arbeitssituation, der Tatsache, dass der aus der Provinz Kandahar stammende Kläger keine Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten in Kabul hat und er dort nach seinen Angaben auf keine familiären oder stammesbezogene Verbindungen zugrückgreifen kann, nicht gegeben. [...]