VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 20.10.2011 - 7 B 249/11 - asyl.net: M19427
https://www.asyl.net/rsdb/M19427
Leitsatz:

Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist nicht gerechtfertigt, wenn die Antragstellerin geltend macht, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer den ehemaligen Präsidenten Gbagbo unterstützenden Familie verfolgt zu werden. Die Auskunftslage zu Côte d'Ivoire ist insofern uneinheitlich, so dass die Frage der Verfolgungsgefahr im Hauptsacheverfahren zu klären ist.

Schlagwörter: ernstliche Zweifel, kollektive Verfolgungssituation, Gruppenverfolgung, gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung, Côte d’Ivoire, Quattara, Gbagbo, offensichtlich unbegründet
Normen: AsylVfG § 30 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der nach § 36 Abs. 3, 4 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung ist begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes. Nach § 30 Abs. 1 AsylVfG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Rechtsbegriff der Offensichtlichkeit dahin ausgelegt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre) sich die Abweisung geradezu aufdrängt (BVerfG, Urt. vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83 -, BVerfGE 71, 276 ff.).

Dazu bedarf es der Beurteilung des Einzelfalls. Wird eine kollektive Verfolgungssituation geltend gemacht, wird eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet in der Regel nur in Betracht kommen, wenn eine entsprechend gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt. Dies schließt zwar nicht aus, dass auch bei deren Fehlen ein Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden kann, doch wird es dann regelmäßig einer eindeutigen und widerspruchsfreien Auskunft sachverständiger Stellen bedürfen. Bei individuell konkretisierten Beeinträchtigungen ist darüber hinaus erforderlich, dass die behauptete Verfolgungsgefahr allein auf nachweislich gefälschten oder widersprüchlichen Beweismitteln beruht oder sich das Vorbringen des Asylbewerbers insgesamt als unglaubwürdig erweist (BVerfG, Beschl. vom 12.07.1983 - 1 BvR 1470/82 -, BVerfGE 65, 76 ff.). An diesen Grundsätzen gemessen, hält der angefochtene Bescheid einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Selbst wenn das individuelle Vorbringen der Antragstellerin sich als unglaubhaft darstellen sollte, ist doch eine Ablehnung des Asylantrages bei der derzeitigen Lage in ihrem Herkunftsland schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil sie als Angehörige der gleichen Volksgruppe wie der ehemalige Präsident Gbagbo, dem sie auch politisch nahe stand, wegen der insoweit zumindest uneinheitlichen Auskunftslage in ihrem Herkunftsland nicht sicher vor Verfolgung ist. So hat die Organisation Ärzte ohne Grenzen in einer Pressemitteilung vom 20.09.2011 ausgeführt, dass es auch Monate nach den Kämpfen zwischen Anhängern des früheren Präsidenten Gbagbo und des neuen Amtsinhabers Ouattara noch immer zu Gewaltausbrüchen in der Elfenbeinküste komme. Es gebe insbesondere Übergriffe, die sich vor allem gegen Zivilisten richteten. Mitarbeiter behandelten ständig Zivilisten mit Schusswunden und Verletzungen durch Macheten sowie Opfer sexueller Gewalt. Zwar soll sich die Sicherheitslage in der Elfenbeinküste nach der Machtübernahme Ouattaras deutlich verbessert haben, doch gibt es weiterhin unsichere Regionen, in denen Rebellen, die Ouattara an die Macht verholfen haben, die Bevölkerung terrorisieren. Betroffen sollen primär Zugehörige der Ethnien sein, denen eine Unterstützung Gbagbos nachgesagt wird (Niemeyer, Bericht vom 28.07.2011, www.afrika-travel.de/elfenbeinkueste-news.de). Diese Einschätzung wird bestätigt von Amnesty International im Bericht "They looked at his identity card and shot him dead - six month of post-electoral violence in Côte d‘Ivoire" Seite 13). Amnesty International berichtet ferner im Bericht vom 28.07.2011 "We want to go home, but we can't" von schweren Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Folterungen auch nach der Festnahme des früheren Präsidenten Gbagbo am 11.04.2011. Im Juni 2011 seien solche Taten sowohl von Anhängern Gbagbos als auch von den Republican forces of Côte d'Ivoire (FRCI), die der neue Präsident am 17.03.2011 ins Leben gerufen habe, aber auch von einer staatlich unterstützten militärischen Gruppe, die sich aus dem Stamm der Dozos rekrutiere, begangen worden. Bei den Dozo handelt es sich um eine traditionelle Jäger-Gemeinschaft, denen in Legenden nachgesagt wird, durch das Tragen von brauner Jagdkleidung und von Amuletten seien sie unverwundbar. Sie stellten immer wieder Kämpfer für die Truppen des jetzigen Präsidenten und sollten sich mehrerer Massaker schuldig gemacht haben (zeit-online vom 27.07.2011). Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Angabe der Antragstellerin zum Aussehen der Männer, die sie vergewaltigt haben sollen, in einem anderen Licht. Zukünftig mag die von Präsident Ouattara eingesetzte nationale Versöhnungskommission, deren Aufgabe es sein wird, die Verbrechen, die während des über vier Monate andauernden Machtkampfes um das Amt des Präsidenten begangen wurden, aufzuklären, entgegen wirken. Doch bei der derzeitigen Sachlage erscheint dies ungewiss, zumindest kann nicht von einer gesicherten Erkenntnismittellage ausgegangen werden. [...]