VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 14.02.2012 - 2 A 78/11 - asyl.net: M19435
https://www.asyl.net/rsdb/M19435
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einen Waisen aus Kirkuk (Nordirak) wegen Anwerbeversuchen und Drohungen durch Mitglieder der islamistischen Gruppierung "Ansar al Islam".

Schlagwörter: Islamistische Gruppierung, Ansar al Islam, Irak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...] Gemessen an diesen Vorgaben ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger nicht im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG verfolgt worden ist und auch nicht verfolgt wird, wenn er in seine Heimat zurückkehren würde.

Das Gericht geht zwar davon aus, dass dem Kläger eine konkrete Gefahr für sein Leben droht, sollte er in den Irak zurückkehren (dazu nachfolgend); aus Rechtsgründen scheidet jedoch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deshalb aus, weil diese Verfolgung nicht an ein asylerhebliches Merkmal anknüpft. Allenfalls kommt beim Kläger eine Verfolgungsanknüpfung im Hinblick auf seinen Familienstand als Waise in Betracht. Dies ist nach seinem Vortrag genau der Grund, weshalb die Mitglieder einer islamistischen Gruppe sich den Kläger für ihre Anwerbeversuche gewendet haben. Mit der Gruppe der Waisen ist jedoch eine bestimmte soziale Gruppe nicht bezeichnet. Sie lässt sich nämlich nicht nach außen als ausgegrenzte Personengruppe erkennen. Vielmehr sieht man es einer Person nicht an, ob ihre Eltern noch leben oder nicht. Das, was dem Kläger drohte, war damit "bloßes" verbrecherisches Unrecht ohne flüchtlingsrechtliche Anknüpfungstatsache. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet daher aus Rechtsgründen aus. [...]

Allerdings hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass die Beklagte in seinem Fall ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG feststellt, denn ihm droht eine konkrete individuelle Gefährdung im Falle einer Rückkehr in den Irak und ihm steht eine zumutbare inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung.

Das Gericht nimmt dem Kläger nach dessen Anhörung in der mündlichen Verhandlung anders als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ab, dass er von Mitgliedern einer islamistischen Gruppierung, der Ansar al Islam, bedroht worden ist. Diese im Nordirak gegründete und überwiegend dort tätige Gruppierung, der Verbindungen zum Al Qaida Netzwerk nachgesagt werden, ist als terroristische Organisation eingestuft, von der erhebliche Gefährdungen für Menschen ausgehen (von der EU wurde Ansar al Islam 2002 als terroristische Vereinigung eingestuft (Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002). Am 24. Februar 2003 nahm der UN-Sicherheitsrat Ansar al Islam in die Liste der terroristischen Vereinigungen auf. Der Kläger hat nachvollziehbar geschildert, wie Mitglieder dieser Gruppierung ihn über längere Zeit hinweg versucht haben anzuwerben. Es klingt schlüssig, wenn der Kläger sagt, er wisse nicht, wie viele Leute von denen anfangs den Laden seines Onkels aufgesucht haben. Denn sie haben sich wie normale Kunden verhalten. Es klingt auch schlüssig, wenn der Kläger vorträgt, die Leute seien nicht mit der Tür ins Haus gefallen, sondern hätten zu ihm und seinem Onkel eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut, mit der Folge, dass der Kläger mehr von sich erzählt hat, als normalen Kunden gegenüber. Nachvollziehbar ist es darüber hinaus, dass die Anwerber es auf den Kläger abgesehen hatten, weil dessen Eltern nicht im Irak lebten, er also eine Waise war. Ebenso nachvollziehbar, und vom Kläger sehr emotional vorgetragen, ohne dabei übertrieben zu wirken, ist der Grund, weshalb der Kläger sich dem Anwerbeansinnen widersetzt hat. Denn er wollte keine terroristischen Aktivitäten ausführen und möglicherweise andere Kinder ebenfalls zu Waisen machen. Der Einzelrichter hatte den Eindruck, dass der Kläger noch hier in Deutschland 1 1/2 Jahre nach seiner Einreise sehr unter den Erlebnissen mit seinem Onkel gelitten hat, auf den er einerseits zum Überleben angewiesen war, der ihn aber andererseits auch sehr gequält und ausgenutzt hat. Ein solches Leben wollte der Kläger, das hat er glaubhaft darstellen können, niemand anderem zumuten. Es erscheint weiter nachvollziehbar und deshalb glaubhaft, dass die Mitglieder der Ansar al Islam im weiteren Verlauf ihrer Anwerbeversuche zu härteren Druckmitteln übergegangen sind. Von der Existenz der Todesdrohung gegen den Onkel des Klägers und der Drohung, dessen Haus abzubrennen, ist das Gericht überzeugt. Der Kläger hat auf Vorhalt des Gerichts sachlich und ohne nervös zu werden, gesagt, dass der Drohzettel in einem Umschlag ins Haus gekommen sei. Er könne sich nicht erklären, wie es in seinem Anhörungsprotokoll vom 26. Oktober 2010 zu der Aussage gekommen sei, es habe sich um einen zerknitterten Zettel gehandelt. Das Gericht hält es nicht für fernliegend, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt hat, wie sie der Kläger in der mündlichen Verhandlung dargestellt hat. Als Indiz für den Wahrheitsgehalt der Aussage wertet das Gericht weiter, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, dass sein Onkel ihm das Schreiben vorlesen musste, weil es auf arabisch geschrieben war, was er nicht verstanden habe. Der Kläger beherrscht nur kurdisch. Wenngleich nach klägerischem Vortrag sein Onkel die bedrohte Person war, wirkte sich diese Drohung unmittelbar auch gegen den Kläger aus; einerseits lebte er im selben Haus wie sein Onkel und dieses Haus sollte abgebrannt werden; andererseits war er in seiner wirtschaftlichen Existenz von seinem Onkel abhängig; nur solange der Kläger im Laden seines Onkels gearbeitet haben würde, hätte dieser ihm Obdach und Nahrung gewährt.

Schließlich könnte sich der Kläger der geschilderten Gefahr nicht dadurch entziehen, dass er in andere Regionen Nordiraks verzieht. Unabhängig von der Gefahr, auch dort von der im ganzen Gebiet tätigen Ansar al Islam entdeckt zu werden, ist dem Kläger ein solches Umziehen nicht zumutbar. Er hat ein ärztliches Attest der ihn behandelnden Ärzte und Psychologen des Asklepios Fachklinikums vom 23. Januar 2012 vorgelegt, aus dem sich eine schwere seelische Störung ergibt. Ob das Attest den an es zu stellenden fachlichen Anforderungen genügt, um die bescheinigte posttraumatische Belastungsstörung zu belegen, lässt das Gericht offen. Denn es ergeben sich ausreichende Anhaltspunkte für eine schwere seelische Störung im Sinne einer Depression. Mit dieser Erkrankung kann vom Kläger nicht verlangt werden, sich in einer ihm fremden Region eine neue eigene Existenz aufzubauen. Vielmehr ergibt sich aus dem Attest, dass der Kläger auf Unterstützung zur Bewältigung seiner täglichen Lebensabläufe angewiesen ist. Eine solche wird ihm außerhalb Kirkuks, seiner Heimatstadt, nicht zuteil. [...]