OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.03.2012 - 1 B 234/12.A - asyl.net: M19440
https://www.asyl.net/rsdb/M19440
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung der Klage durch OVG: Es bestehen ins Gewicht fallende Zweifel an der Richtigkeit der ergangenen Abschiebungsanordnung nach Italien, da die konkrete Gefahr vorliegt, dass im Falle einer Überstellung nach Italien wegen drohender Obdachlosigkeit und Unerreichbarkeit für Behörden und Gerichte Rechtsbeeinträchtigungen drohen, die nachträglich nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Schlagwörter: unwiderlegliche Vermutung, normative Vergewisserung, Dublin II-VO, EuGH, Mindeststandards, Hauptsacheverfahren, Obdachlosigkeit, Unerreichbarkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 34, CR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

[...]

Hiervon ausgehend gelangt der durch § 34a Abs. 2 AsylVfG bestimmte prinzipielle Ausschluss vorläufiger Rechtsschutzes dann nicht zur Anwendung, wenn es durch Tatsachen gestützte und ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür gibt, dass bezogen auf den für zuständig erachteten Mitgliedstaat nach den aktuellen Erkenntnissen über die dort bestehenden konkreten Verhältnisse das Konzept normativer Vergewisserung nicht greift. Letzteres ist (u.a.) der Fall, wenn sich der Mitgliedstaat von den nach diesem Konzept als generell eingehalten vermuteten Verpflichtungen gelöst hat, also die allgemein europaweit vereinbarten Mindeststandards aufgrund von innerstaatlichen systemischen Mängeln des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen nicht (mehr) gewährleistet bzw. gewährleisten kann. Solches kann namentlich dadurch zum Ausdruck kommen, dass der betreffende Mitgliedsstaat dem betroffenen Ausländer keine ausreichende Chance einräumt, dass sein Schutzgesuch überhaupt ernsthaft geprüft wird, und/oder dass die humanitäre, vor allem wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnungssituation nicht dem Art. 4 der Grundrechte-Charta oder den in einschlägigen Richtlinien des Gemeinschaftsrechts vereinbarten Standards entspricht, so dass letztlich die Gefahr besteht, dass die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden (vgl. statt vieler: VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012 - A 4 K 2203/11- juris, Rn, 4. m.w.N.).

Nach den für ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geltenden Maßstäben der summarischen Prüfung hält der Senat das Vorliegen eines derartigen Ausnahmefalls, was die Beurteilung der Verhältnisse in Italien betrifft, nach Aktenlage und insbesondere aufgrund des stattgebenden erstinstanzlichen Urteils in einem Grad für ernstlich wahrscheinlich, welcher die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Ergebnis rechtfertigt. Dabei hat man sich zu vergegenwärtigen, dass das in Rede stehende vorläufige Rechtsschutzverfahren es vor allem bezweckt, die (hier: weitere) Durchführbarkeit des Hauptsacheverfahrens zu sichern, ohne dass der Antragsteller - wie gegebenenfalls bei seiner Überstellung nach Italien noch während der Dauer jenes Verfahrens - Rechtsbeeinträchtigungen befürchten muss, die diesen Zweck gefährden und die nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr verhindert bzw. rückgängig gemacht werden können (vgl. dazu allgemein OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -, NVwZ 2009, 1571 = juris, Rn. 13 f. = NRWE).

Dieser Gesichtspunkt erlangt eine besondere Bedeutung dadurch, dass hier bereits eine erstinstanzliche Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorliegt, und zwar ein für den Antragsteller obsiegendes Urteil. Die hiergegen seitens der Antragsgegnerin beantragte Zulassung der Berufung (1 A 21/12.A) hat der Senat durch Beschluss vom heutigen Tage wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Eine genauere und abschließende, dabei tatsächliche Feststellungen und die Bewertung von bestimmten Erkenntnissen verknüpfende Prüfung der Frage, ob bzw. inwieweit das Konzept der normativen Versicherung in Italien generell noch greift, ist der Endentscheidung in diesem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.

Für die Statthaftigkeit - und zugleich den sachlichen Erfolg - des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der bislang erfolgreichen Klage muss es demgegenüber bereits ausreichen, dass dem Senat derzeit bei summarischer Prüfung keine Erkenntnisse vorliegen, aus denen sich die Unrichtigkeit des im Hauptsacheverfahren ergangenen Urteils greifbar ergibt. Das ist hier der Fall.

Das Verwaltungsgericht Köln hat in seinem Urteil vom 16. November 2011 - 3 K 2890/11 .A - im Kern ausgeführt, es stehe zu seiner Überzeugung fest, dass der Antragsteller (dort: Kläger) bei einer Rückschiebung nach Italien mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen zu rechnen habe, weil die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse dort nicht gesichert sei. Insoweit schließe sich das Gericht der ausführlich begründeten Auffassung des Verwaltungsgerichts Magdeburg in dessen Urteil vom 26. Juli 2011 - 9 A 346/10 -, juris, einschließlich der dortigen ausführlichen Würdigung der verfügbaren Erkenntnisquellen an. Für eine zwischenzeitliche Verbesserung der Verhältnisse sei angesichts der im Jahr 2011 noch gestiegenen Zahl von Menschen, die von der nordafrikanischen Küste Italien erreicht hätten, nichts ersichtlich. Eher habe sich die Lage noch verschlimmert. Das in Bezug genommene Verwaltungsgericht Magdeburg hat seine Überzeugung im Wesentlichen aus dem Bericht von Maria Bethke und Dominik Bender "Zur Situation der Flüchtlinge in Italien" vom 28. Februar 2011 und aus dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom Mai 2011 zu "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien" bezogen. Es hat sich dabei mit diesen Erkenntnisquellen detailliert auseinandergesetzt. Als am meisten ins Auge stechenden Mangel hat es nachvollziehbar denjenigen an Unterkünften und damit das Fehlen der Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse angeführt. Eine im Wesentlichen entsprechende Beurteilung der Sachlage hat im Übrigen im Rahmen aktueller Entscheidungen etwa auch das Verwaltungsgericht Freiburg - ebenfalls mit eingehender Begründung - vorgenommen (vgl. Beschlüsse vom 2. Februar 2012 - A 4 K 2203/11 -, juris, sowie vom 17. Februar 2012 - A 2 K 286/12 -; siehe entsprechend zur Situation in Italien jüngst auch Dominik Bender, Warum Italien ein "Dublin-Thema" ist, Asylmagazin 2012, 11 ff.).

Der Antragsgegnerin ist zuzugeben, dass es auch eine Reihe von - etwa den von ihr in ihrem Schriftsatz vom 27. Februar 2012 angeführten - Entscheidungen von (erstinstanzlichen) Verwaltungsgerichten gibt, welche die Verhältnisse in Italien gemessen an dem gemeinschaftsrechtlich allgemein vorgegebenen Schutzniveau im Ergebnis anders würdigen. Dies geschieht dabei unter (Mit-) Verwertung von im Wesentlichen denselben Erkenntnisquellen. Das verdeutlicht aber gerade die offenbar bestehende Schwierigkeit einer eindeutigen Bewertung und damit die Notwendigkeit einer besonders gründlichen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung, die hier mit Blick auf die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung nur im Hauptsacheverfahren erfolgen kann. Dabei wird der Senat sich auch noch damit befassen müssen, ob und gegebenenfalls inwieweit das jüngst ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. Februar 2012 (siehe etwa FAZ vom 24. Februar 2012 Seite 6) Bedeutung für die Beurteilung der Sachlage in dem vorliegenden Verfahren haben kann und ob es nach dem Ende der Ära Berlusconi bereits feststellbare Änderungen in der Einwanderungspolitik Italiens gibt, welche sich konkret auf die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber auswirken.

Der Antrag ist nicht nur statthaft und im Übrigen zulässig, sondern er ist auch begründet.

Der Senat kommt im Rahmen der ihm nach § 80 Abs. 5 VwGO obliegenden Interessenabwägung zu dem Ergebnis. dass das private Interesse des Antragstellers, bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache nicht nach Italien abgeschoben zu werden, höher zu bewerten ist als das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Abschiebung. Denn jenes Interesse hat gegenüber dem Anspruch des Antragstellers auf einen Schutz entsprechend den im Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbarten Mindeststandards zurückzutreten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie hier - unter Berücksichtigung des Ergebnisses und der Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung in dem zugehörigen Klageverfahren - ins Gewicht fallende Zweifel an der Richtigkeit der ergangenen Abschiebungsanordnung bestehen und sich angesichts der Schwierigkeit der betroffenen Sach- und Rechtsfragen eine konkrete Prognose für den endgültigen Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch nicht treffen lässt. Überwiegendes Gewicht erlangt das öffentliche Interesse an zeitnaher Durchsetzung der Abschiebung dabei auch nicht vor dem Wintergrund eines etwa drohenden Ablaufs der Rückstellungsfristen des Art. 19 Abs. 3 Satz 1, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO. Denn es ist keineswegs sicher, dass es zu einem solchen Ablauf während der Durchführung des Hauptsacheverfahrens kommen wird. Auch mit Blick auf diese Frage hat der Senat vorliegend die Berufung zugelassen. Dabei wird von einigen Gerichten die (gut nachvollziehbare) Auffassung vertreten, dass ausgehend von den vom EuGH in dem Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 ("Petrosian u.a.") -, juris, allgemein aufgestellten Grundsätzen auch unter Berücksichtigung des deutschen innerstaatlichen Rechts die betreffenden Fristen erst nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens beginnen, jedenfalls dann, wenn die Gerichte aufgrund der Annahme eines Ausnahmefalles tatsächlich vorläufigen Rechtsschutz gewähren (vgl. etwa Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 - 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5 ff., insb. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012 - A 4 K 2203/11 -, juris, Rn. 14).

Im Übrigen besteht hier gerade auch für das Interesse des Antragstellers die konkrete Gefahr, dass im Falle seiner Überstellung nach Italien - wegen etwa drohender Obdachlosigkeit und Unerreichbarkeit für Behörden und Gerichte - (mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz letztlich als gewichtiger zu bewertende) Rechtsbeeinträchtigungen eintreten, die nachträglich nicht mehr rückgängig zu machen sind. [...]