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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 09.02.2012 - 2 BvR 1064/10 - asyl.net: M19446
https://www.asyl.net/rsdb/M19446
Leitsatz:

1. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Haftentscheidungen auf zureichender richterlicher Aufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

2. Zur Ermittlungspflicht in Abschiebungshaftangelegenheiten gehört die eigenverantwortliche Sachaufklärung des Gerichts, bei der zu untersuchen ist, ob der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig ist.

Schlagwörter: eigenverantwortliche richterliche Sachprüfung, Freiheitsentziehung, Abschiebung, Zustellung, vollziehbar ausreisepflichtig
Normen: GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2, GG Art. 20 Abs. 3, FamFG § 427 Abs. 1, AsylVfG § 10
Auszüge:

[...]

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. [...]

b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGE 58, 208 222, 230>; 70, 297 308>). In Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für eine Haftanordnung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei der Anordnung von Abschiebungshaft wie auch bei der Entscheidung über ihre Fortdauer verpflichtet er die Gerichte insbesondere, zu überprüfen, ob die Ausreisepflicht (fort)besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2009 - 2 BvR 538/07 -, juris, Rn. 19).

c) Diese Anforderungen sind auf die einstweilige Freiheitsentziehung nach § 427 FamFG jedenfalls insoweit übertragbar, als deren Zweck durch die Sachprüfung nicht gefährdet wird.

Eine vorläufige Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung kann das Gericht nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG anordnen, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegeben sind und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Unterbringung sind damit deckungsgleich mit denjenigen, die für die endgültige Maßnahme gelten (vgl. Budde, in: Keidel, FamFG, 17. Aufl. 2011, § 427 Rn. 2). Verfahrensrechtlich kann eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG bereits dann getroffen werden, wenn die für den Erlass der endgültigen Maßnahme erforderlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, soweit konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Freiheitsentziehung erfüllt sind; dabei wird eine summarische Prüfung für ausreichend erachtet (vgl. Budde, a.a.O.).

Dies entbindet die Gerichte jedoch allenfalls insoweit von den zur rechtlichen Prüfung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen erforderlichen Ermittlungen, als ansonsten das Verfahrensziel der Freiheitsentziehung gefährdet wäre. Den Charakter eines Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht verliert eine Freiheitsentziehung nicht dadurch, dass sie in einem summarischen Verfahren angeordnet wird. Die allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung gelten daher im Grundsatz auch bei der vorläufigen Freiheitsentziehung. Abstriche sind jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn erforderliche Ermittlungen ohne Gefährdung des Verfahrensziels ohne Weiteres durchführbar sind.

Die gerichtliche Aufklärungspflicht ist auch nicht im Hinblick auf die Begrenzung der vorläufigen Freiheitsentziehung auf die Dauer von sechs Wochen (§ 427 Abs. 1 Satz 2 FamFG) reduziert. Diese Begrenzung dient der Wahrung der Verhältnismäßigkeit einer vorläufigen Freiheitsentziehung, ändert jedoch nichts an deren Anordnungsvoraussetzungen und der gerichtlichen Verpflichtung, diese festzustellen.

2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen Entscheidungen nicht im Einklang. Die Gerichte sind ihrer Verpflichtung zu einer eigenverantwortlichen Sachaufklärung nicht in dem von der Verfassung gebotenen Umfang nachgekommen, weil sie nicht hinreichend untersucht haben, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig war.

a) Das Amtsgericht ist vor der Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung nicht der Frage nachgegangen, ob dem Beschwerdeführer der Bescheid des Bundesamts vom 7. Oktober 2009 wirksam bekannt gegeben worden ist, obwohl hieran unter mehreren Gesichtspunkten Anlass zu Zweifeln bestand, die der Aufklärung bedurft hätten.

aa) Eine eigenverantwortliche Prüfung, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig ist, war dem Amtsgericht auf der Grundlage der ihm vorgelegten Unterlagen verwehrt. Weder in dem Antrag auf Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung noch in dem parallel übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft waren die Tatsachen dargelegt, aus denen sich eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergab. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen. Die Anordnung von Zurückschiebungshaft setzt nach § 417 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 FamFG einen begründeten Antrag voraus, der Darlegungen enthalten muss, aus welchen Gründen der Betroffene zweifelsfrei ausreisepflichtig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09 -, juris, Rn. 14). Die vorläufige Freiheitsentziehung darf nach § 427 Abs. 1 FamFG nur angeordnet werden, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für eine Anordnung einer Freiheitsentziehung erfüllt sind. Auch dem Antrag auf vorläufige Haftanordnung muss daher zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen der Beschwerdeführer ausreisepflichtig ist.

Dies war hier nicht der Fall. In dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG war ohne Angabe von Gründen lediglich ausgeführt, der Beschwerdeführer sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der die Grundlage der Ausreisepflicht bildende Bescheid vom 7. Oktober 2009 sowie Zeitpunkt, Art und Weise seiner Bekanntgabe waren nicht bezeichnet. Diese Informationen ergaben sich auch nicht aus dem dem Amtsgericht zugleich übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft. Aus diesem ging lediglich hervor, dass der Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 5. März 2008 als unzulässig zurückgewiesen worden war; nicht genannt war hingegen der Bescheid vom 7. Oktober 2009, aus dem eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers allenfalls folgte. Dieser Begründungsmangel hat den Bundesgerichtshof bewogen, festzustellen, dass die Anordnung der Zurückschiebungshaft und deren Bestätigung den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt haben (BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10 -, juris). Dass die Ausländerbehörde ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG auch den Bescheid vom 7. Oktober 2009 beigefügt hat, ersetzt dessen Inbezugnahme im Antrag nicht. Nur durch eine ausdrückliche Nennung des Bescheides ist hinreichend gewährleistet, dass erkennbar ist, auf welche konkreten Grundlagen die Behörde ihren Antrag stützt, und dass die Übermittlung des Antrages an den Betroffenen dessen Recht auf rechtliches Gehör wahrt (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 12). Vor allem aber ergibt sich weder aus dem Bescheid noch aus den anderen dem Amtsgericht vorgelegten Unterlagen, ob und in welcher Form eine Bekanntgabe an den Beschwerdeführer erfolgt ist. So fehlen Dokumente wie etwa eine Zustellungsurkunde oder ein Vermerk über die Anschrift, unter der die Zustellung erfolgt oder versucht worden ist.

Gegen eine wirksame Bekanntgabe spricht vor diesem Hintergrund der Hinweis in dem Antrag auf Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung, der Beschwerdeführer habe sich seiner für den 8. Oktober 2009 geplanten Abschiebung in die Slowakische Republik entzogen und sei seitdem unbekannten Aufenthalts gewesen. Die Annahme einer wirksamen Zustellung bei unbekanntem Aufenthalt hätte zumindest näherer Erläuterung bedurft. Zweifel an einer Ausreisepflicht ergaben sich schließlich auch aus dem Vermerk des Bundesamts vom 3. November 2009, welcher dem Amtsgericht zum Zeitpunkt der einstweiligen Haftanordnung vorlag. Danach ging das Bundesamt davon aus, dass der Bescheid über die Ablehnung des Asylantrages vom 7. Oktober 2009 dem Beschwerdeführer am 12. Oktober 2009 zugestellt worden sei oder als an diesem Datum zugestellt gelte. Damit blieb offen, ob das Bundesamt von einer Zustellung oder einer Zustellungsfiktion ausging und aufgrund welcher Tatsachen es zu seiner Annahme gelangte, Anhaltspunkte für die Klärung dieser Fragen lassen sich den dem Amtsgericht vorgelegten Dokumenten nicht entnehmen.

bb) Daher hätte Anlass zur Klärung der Frage der Ausreisepflicht bestanden. Nachforschungen hierzu hat das Amtsgericht jedoch nicht vorgenommen. Die zuständige Richterin verfügte lediglich die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung. Dabei geht aus dem verwendeten Textvordruck hervor, dass (allein) aufgrund des gestellten Haftantrages von einer Ausreisepflicht ausgegangen wurde. Das Amtsgericht ist damit nicht im Ansatz seiner verfassungsmäßigen Verpflichtung nachgekommen, eigenverantwortlich zu prüfen, ob eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers bestand.

Eine Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es sich um eine eilbedürftige Entscheidung über eine vorläufige Freiheitsentziehung handelte. Angesichts des zwischen dem Antrag der Ausländerbehörde vom 25. November 2009 und der erst für den 30. November 2009 angekündigten Rückführung aus den Niederlanden liegenden Zeitraums von mehreren Tagen wäre es dem Amtsgericht ohne Weiteres möglich gewesen, durch Beiziehung der Akten der Ausländerbehörde und des Bundesamts oder durch telefonische Rückfrage bei den Behörden eigenständig nachzuprüfen, ob und auf welcher Grundlage von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ausgegangen werden konnte.

cc) Da bereits das Unterlassen von Nachforschungen trotz ersichtlich unzureichender Entscheidungsgrundlage einen Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Sicherungen des Freiheitsgrundrechts darstellt, kann dahinstehen, ob eine Ausreisepflicht tatsächlich bestand. Ein Verstoß gegen Verfahrens- oder Formvorschriften wäre auch dann nicht unbeachtlich, wenn die materiellen Haftvoraussetzungen erfüllt wären. Eine solche hypothetische Betrachtungsweise widerspräche dem Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2008 - 2 BvR 1438/07 -, juris, Rn. 13).

dd) Der Verfassungsverstoß entfällt schließlich auch nicht deshalb, weil die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer nach § 62 Abs. 4 AufenthG in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung möglicherweise auch ohne vorherige richterliche Anordnung hätte festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen können. Die Behörde hat nicht diese Vorgehensweise gewählt, sondern sich dafür entschieden, einen Antrag nach § 427 Abs. 1 FamFG zu stellen. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen, muss der Eingriff den Voraussetzungen der konkret gewählten Rechtsgrundlage entsprechen.

b) Auch der Beschluss des Landgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine eigenverantwortliche richterliche Sachprüfung nicht, ohne dass es darauf ankommt, ob in dem keiner Eilbedürftigkeit mehr unterliegenden landgerichtlichen Feststellungsverfahren erleichterte Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellung zur Geltung kommen. Das Landgericht stellte darauf ab, dass dem Amtsgericht der Bescheid des Bundesamts vorgelegen habe, aus dem sich die Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergeben habe. Den Bescheid erachtete das Landgericht ohne weitere Nachprüfung als bestandskräftig, wobei es auf die Abschlussmitteilung des Bundesamts abhob, aus der sich eine Zustellungsfiktion ergebe. Damit überging das Landgericht, dass aus der Mitteilung des Bundesamts bereits nicht eindeutig hervorgeht, ob der Bescheid zugestellt worden oder ob das Bundesamt von einer Zustellungsfiktion ausgegangen ist. Den sich hieraus ergebenden Zweifeln ist das Landgericht nicht weiter nachgegangen. Der Hinweis auf das Erfordernis einer nur summarischen Prüfung, die "keine Zweifel an einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 AsylVfG" ergebe, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Angesichts der Möglichkeit einer eigenen Tatsachenfeststellung anhand der Ausländerakte und der Asylakte oder einer fernmündlichen Rückfrage bei den Behörden und einer darauf basierenden eigenen Prüfung durfte sich das Landgericht nicht darauf beschränken, die - zumal mehrdeutige und nicht begründete - Annahme des Bundesamts zu übernehmen. Vielmehr hätte es, sofern es von einer Zustellungsfiktion ausgehen wollte, deren in § 10 AsylVfG näher geregelte Voraussetzungen erörtern und deren Vorliegen aufklären müssen. [...]