BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 - asyl.net: M1945
https://www.asyl.net/rsdb/M1945
Leitsatz:

Verfassungsrechtlicher Schutz der Vater-Kind-Beziehung.

 

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Türken, Familienangehörige, Nichteheliche Kinder, Deutsche, Aufenthaltserlaubnis, Schutz von Ehe und Familie, Kind, Beschwerdebefugnis, Familiäre Lebensgemeinschaft, Beistandsgemeinschaft, Betreuung, Personensorge, Darlegungslast
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2
Auszüge:

Verfassungsrechtlicher Schutz der Vater-Kind-Beziehung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage aufenthaltsrechtlicher Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zugunsten eines mitsorgeberechtigten nichtehelichen Vaters eines deutschen Kindes.

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>, 80, 81 <93>). Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfGE 76, 1 <42 f.>), wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, S.67).

Die familiäre Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer zu 1. und der Beschwerdeführerin zu 2. unterfällt dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG, wobei sich beide Beschwerdeführer als Angehörige derselben Einheit "Familie" darauf berufen können. Ferner ist auch der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 2 GG eröffnet. In den persönlichen Schutzbereich dieser die Elternautonomie im Interesse des Kindeswohls schützenden Vorschrift sind auch Väter nichtehelicher Kinder einbezogen, wenn sie nach den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften als Väter feststehen, ohne dass es insoweit auf die Qualität der Beziehung des Vaters zum Kind oder der Mutter ankommt (vgl. BVerfGE 92, 158 <176ff>). Auch der Beschwerdeführer zu 1. ist mithin Träger dieses Elternrechts.

Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es bestünden keine aufenthaltsrechtlich schützenswerten Bindungen zwischen den Beschwerdeführern, beruht auf der Annahme von Darlegungserfordernissen zur Qualität und insbesondere Quantität der familiären Kontakte, die mit den staatlichen Schutzpflichten aus Art. 6 GG nicht vereinbar und im vorliegenden Fall auch nicht durch besondere Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt sind. Die Anforderungen an die Darlegungslast des Beschwerdeführers zu 1. werden insbesondere der als emotional bezeichneten Beziehung der Beschwerdeführerin zu 2. zu ihrem Vater nicht hinreichend gerecht. Das Verwaltungsgericht hat aufenthaltsrechtlich schützenswerte Bindungen zwischen den Beschwerdeführern verneint, weil der Beschwerdeführer zu 1. nicht hinreichend dargetan habe, dass er für seine Tochter auch tatsächlich wesentliche elterliche Betreuungsleistungen erbracht habe. Die Begründung des Verwaltungsgerichts hierfür wird Inhalt und Bedeutung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht gerecht. Das Verwaltungsgericht stützt sich im wesentlichen darauf, die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen der Mutter der Beschwerdeführerin zu 2. vom Mai 1999 und Januar 2000 sowie einer Bekannten vom Januar 2000 seien zu vage und pauschal gehalten und ließen das Maß der vom Beschwerdeführer zu 1. tatsächlich erbrachten Betreuungsleistungen nicht hinreichend erkennen. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom Mai 1999 hat die Mutter der Beschwerdeführerin zu 2. im Wesentlichen erklärt, der Beschwerdeführer zu 1. habe bis zum Januar 1999 mit ihnen zusammen gewohnt, häufig mit ihr gespielt, sie gebadet und sei mit ihr spazieren gegangen. Die Tochter liebe ihren Vater und brauche ihn dringend. Nachdem der Beschwerdeführer zu 1. sie im Januar 1999 aus Furcht vor einer Abschiebung verlassen habe, leide die Tochter in starkem Maße und weine regelmäßig bei den häufigen Telefonaten.

Soweit das Verwaltungsgericht diese Angaben als zu pauschal bewertet und konkretere Angaben zu Art und Umfang der väterlichen Betreuungsleistungen für erforderlich gehalten hat, wird dies dem von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Schutz der Familie nicht gerecht. Eine verantwortungsvolle und gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht nur quantitativ etwa nach Datum und Uhrzeit des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen. Die Forderung nach Erfüllung objektiv messbarer und bestimmbarer Mindestkriterien für die Annahme aufenthaltsrechtlich schützenswerter Betreuungsleistungen lässt die in Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete und vom Staat zu respektierende Autonomie der Eltern bei der konkreten Umsetzung ihrer elterlichen Pflichten und Rechte und der Ausgestaltung der gemeinsam getragenen Elternverantwortung außer Acht. Hinzu kommt, dass die Entwicklung eines Kindes nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt wird. Es kann offen bleiben, inwieweit die durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsreformgesetz - KindRG) vom 16. Dezember 1997 (BGBI I S. 2942) bewirkten Veränderungerungen der familienrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Einführung einer gemeinsamen elterlichen Sorge getrennt lebender Eltern, die gewachsene Bedeutung des Umgangsrechts sowie grundsätzlich die Stärkung der Rechtsposition des Kindes (vgl. §§ 1626, 1626a, 1684 BGB n. F. ) möglicherweise mit einer auch verfassungsrechtlich erheblichen Modifikation des Leitbilds der Familie in Art. 6 GG korrespondieren (so zum Familienbergriff der Berliner Verfassung BerlVerfGH, Beschluss vom 22. Februar 2001 - VerfGH 103 A/00, 103/00 -, NVwZ-RR 2001, S. 687 <688>) und welche Auswirkungen dies auf den Inhalt der staatlichen Schutzpflichten des Art. 6 GG im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen hat (vgl. dazu etwa OVG Hamburg, Beschluss vom 28. April 1999 - 4 Bs 92/99 -, NVwZ 2000, S. 105 ff.; OVG Niedersachsen, Beschlüsse vom 19. April 2000 - 11 M 1343/00 -, InfAuslR 2000, S. 392 ff. und vom 18. September 2000 - 11 M 2929/00 -, InfAuslR 2001, S. 75 ff. ; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10. April 2000 - 10 B 10369/00.OVG -, InfAuslR 2000, S. 388 ff.). Insbesondere kann dahinstehen, ob der gemeinsamen Sorgeerklärung - auch im Hinblick auf die grundsätzlich von Behörden und Gerichten zu respektierende Elternautonomie - eine eigenständige Bedeutung etwa im Sinne einer Vermutung für die Begründung schützenswerter familiärer Beziehungen beider Eltern zu ihrem Kind zuzumessen ist (vgl. die im Verfahren abgegebene Stellungnahme des Innenministeriums von Baden-Württemberg vom 28. Juni 2000, S 2 f. wonach das Vorliegen einer solchen Erklärung auch bei getrennt lebenden Partnern zu einer Vermutung dafür führe, dass die <gemeinsame> Personensorge einerseits dem Wohl des Kindes diene und andererseits auch tatsächlich ausgeübt werde; in diesem Sinne auch OVG Sachsen, Beschluss vom 31. August 2000 - 3 Bs 713/99 -, NVwZ-RR 2001, S. 689 <690>; Laskowsku/Albrecht, ZAR 1999, S. 100 <102>).