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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 06.03.2012 - W 4 K 11.30259 - asyl.net: M19470
https://www.asyl.net/rsdb/M19470
Leitsatz:

Die Situation der staatenlosen Palästinenser im Irak ist insgesamt miserabel, sie sind persönlich-körperlich gefährdet, und zwar über das Maß dessen hinaus, was das gegenwärtige Leben im Irak für jeden Iraker gefährlich macht.

Schlagwörter: Irak, Palästinenser, staatenlose Palästinenser, Saddam Hussein, Kollaborateur, Kollaboration, Einreiseverweigerung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Es steht allerdings zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger als staatenloser Palästinenser derzeit bei einer Rückkehr nach Bagdad einer erheblichen, individuell konkreten Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre.

Unter dieses Abschiebungsverbot fallen die Fälle einer erheblichen Gefahr der Ermordung oder längerfristigen Freiheitsberaubung durch nichtstaatliche Inhaftierung oder Geiselnahme oder schwerwiegenden Misshandlung. Die Vorschrift erfüllt eine Auffangfunktion in Fällen konkreter Gefährdung (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2010, RdNr. 167 zu § 60 AufenthG).

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 28. November 2010 ist davon auszugehen, dass sich die Sicherheitslage im Irak zwar erheblich verbessert hat, sie sich aber - außer in der Region Kurdistan-Irak - immer noch als äußerst angespannt darstellt. Die Situation der früher bevorzugt behandelten staatenlosen Palästinenser ist "sehr schwierig", da sie dem Verdacht ausgesetzt sind, mit dem früheren Regime von Saddam Hussein kollaboriert zu haben. Die im Irak verbliebenen Palästinenser haben teilweise kein Obdach (Lagebericht, S. 23, 32). Das German Institut of Global and Area Studies - Institut für Nahost-Studien (GIGA) hat in seiner Stellungnahme vom 6. März 2007 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Situation der Palästinenser nach dem Sturz des Saddam-Regimes massiv verschlechtert hat. Während sie früher relativ wohlwollend behandelt wurden und kostenlos Wohnraum zur Verfügung gestellt bekamen, hat sich zwischenzeitlich in der Bevölkerung eine beträchtliche Abneigung herausgebildet. Sie wurden Zielscheibe einer ganzen Reihe verschiedener Angriffe, Bedrohungen und Schikanen durch unterschiedliche Tätergruppen. Die Palästinenser wurden aus ihren Mietshäusern vertrieben. Die Situation ist "ziemlich besorgniserregend" und es kommt hinzu, dass die Palästinenser im Irak keine Lobby haben (GIGA-Bericht, S. 2 ff.). Es wird davon ausgegangen, dass einem staatenlosen Palästinenser sogar die Möglichkeit, in den Irak zurückzukehren, verweigert wird. Die Ursache für eine Einreiseverweigerung liegt darin, dass man diese Gruppe von Menschen als "nicht dazugehörig" schlicht loswerden möchte. Die Situation der staatenlosen Palästinenser ist "insgesamt miserabel", sie sind persönlich-körperlich gefährdet, und zwar über das Maß hinaus, das das gegenwärtige Leben im Irak für jeden Iraker gefährlich macht (GIGA-Bericht, S. 8). Diese Erkenntnisse decken sich auch mit den Befürchtungen, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, wenn er für den Fall seiner Rückkehr massive körperliche Übergriffe bis hin zur Tötung seitens der Bevölkerung bzw. extremistischer Gruppen erwartet.

Auch nach dem Bericht des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Juni 2011 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive kommt es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Von Anschlägen betroffen sind auch die Palästinenser (Bericht, S. 3). Ausweislich der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 5. November 2009 (Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak) hat sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Besonders gefährdet durch Anschläge militanter schiitischer Milizen sind vor allem die durch das frühere Regime privilegierten Gruppen, so auch die der Palästinenser (Stellungnahme, S. 3 ff.).

Angesichts dieser Schilderungen ist es nachvollziehbar, dass der Kläger wegen der Situation im Irak seine Heimat verlassen hat. Nach allem steht auch zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger derzeit bei einer Rückkehr nach Bagdad einer erheblichen, individuell konkreten Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre. [...]