VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 20.01.2012 - A 11 K 1133/11 - asyl.net: M19473
https://www.asyl.net/rsdb/M19473
Leitsatz:

Der Iran verfügt über ein ausgebautes staatliches Versicherungswesen, welches prinzipiell auch die Deckung von Krankheitskosten umfasst. Allerdings müssen Patienten massiv Vorauszahlungen leisten, damit eine Behandlung überhaupt in Angriff genommen wird; sie müssen weiter hohe Eigenaufwendungen leisten, da die Behandlungskosten die Versicherungsleistungen in vielen Fällen deutlich übersteigen. Medikamente müssen grundsätzlich selbst bezahlt werden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Iran, Abschiebungsverbot, Krankheit, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Versicherung, Krankenversicherung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...] Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots

nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.[...]

Nach diesen Grundsätzen droht dem Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei einer Rückkehr in den Iran, weil er aufgrund seiner psychischen Erkrankung derzeit im Iran mit schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu rechnen hätte.

Nach dem vom Kläger vorgelegten Gutachten des Psychosozialen Zentrums für traumatisierte Flüchtlinge e. V. vom 18.11.2010 wurde bei ihm eine chronische depressive Erkrankung und eine schwere Depression mit Suizidalität diagnostiziert. Der Kläger sei nicht nur auf Antidepressiva und Neuroleptika angewiesen, sondern eine psychiatrische Behandlung sei unumgänglich, regelmäßige therapeutische Gespräche seien unbedingt erforderlich. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser ärztlichen Feststellung zu zweifeln. Auch die Beklagte hat keine Einwendungen gegen das vorgelegte Gutachten erhoben.

Zwar ist die medizinische Versorgung im Iran grundsätzlich ausreichend bis - vor allem in Teheran - befriedigend, wenn sie auch nicht internationalen Anforderungen entspricht. Die Versorgung mit Medikamenten ist weitgehend gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.11.2011 S. 49). Ob bzw. wie psychische Erkrankungen im Iran behandelbar sind, ist der Auskunftslage nicht eindeutig zu entnehmen. So teilte das Deutsche Orient-Institut in seinem Gutachten vom 03.06.2002 an das VG Mainz mit, Psychotherapie werde im Iran - sie gelte als "westliche Unkultur" - nicht praktiziert. Andererseits heißt es im Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 22.12.2003 an das VG Aachen, im Iran seien auch anspruchsvolle psychiatrische Behandlungen möglich. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe teilt in ihrer Auskunft vom 20.11.2008 mit, die therapeutischen Behandlungsmethoden für psychisch kranke Menschen beinhalteten im Iran vorwiegend Pharmakotherapie sowie Psychotherapie; in den größeren Städten des Irans seien auch psychotherapeutische Sitzungen möglich. Selbst wenn danach davon auszugehen wäre, dass es die erforderliche psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung für den Kläger im Iran gäbe, wäre diese, aber auch die erforderliche medikamentöse Behandlung für den Kläger im Iran nicht verfügbar.

Der Iran verfügt über ein ausgebautes staatliches Versicherungswesen, welches prinzipiell auch die Deckung von Krankheitskosten umfasst; allerdings müssen Patienten hohe Eigenaufwendungen leisten, da die Behandlungskosten die Versicherungsleistungen in vielen Fällen deutlich übersteigen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.11.2011 S. 49). Das Versicherungswesen im Iran ist aber so geordnet, dass vom Versicherungsschutz grundsätzlich nur die Behandlung umfasst ist, so dass Medikamente grundsätzlich selbst bezahlt werden müssen (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 22.12.2003 an VG Aachen). Diesen Versicherungsschutz haben alle Staatsangestellten, die Bediensteten des Militärs, Angestellte und Arbeiter in staatlichen Firmen, aber auch für in der Privatwirtschaft angestellte Personen gibt es einen gesetzlichen Versicherungsschutz (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 22.12.2003 an VG Aachen). Weiter müssen Patienten massiv Vorauszahlungen leisten, damit eine Behandlung überhaupt in Angriff genommen wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 20.11.2008).

Nach dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass die notwendige Behandlung und Medikation des Klägers im Iran ihm aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist. Von dem im Iran bestehenden Krankenversicherungsschutz wird der Kläger, der aufgrund seiner Erkrankungen und seines Alters nicht mehr arbeiten kann, nicht erfasst. Dies bedeutet, dass er sowohl für seine Behandlung als auch für die erforderlichen Medikamente selbst aufkommen müsste. Selbst wenn er aber Krankenversicherungsschutz erhalten würde, wäre er auf hohe Eigenaufwendungen angewiesen, da die Behandlungskosten deutlich über den Versicherungsleistungen liegen und Medikamente selbst bezahlt werden müssen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und substantiiert dargelegt, dass er mit einer verlässlichen finanziellen Unterstützung von Angehörigen nicht rechnen könne. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger die erforderliche psychiatrische und medikamentöse Behandlung im Iran erhalten wird. Für den Kläger besteht folglich bei einer Rückkehr in den Iran eine ganz konkrete individuelle Gefahrensituation.

Der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Es kann nicht angenommen werden, dass hinsichtlich des vielfältigen Symptombildes psychischer Erkrankungen ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff AufenthG Nr. 18). [...]