VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.12.2011 - A 11 K 2066/11 - asyl.net: M19474
https://www.asyl.net/rsdb/M19474
Leitsatz:

1. Ist einem iranischen Staatsangehörigen wegen der Weigerung iranischer Stellen, ihm Personalpapiere auszustellen, verwehrt, einen Schulabschluss zu erwerben und eine staatliche Schule zu besuchen, stellt dies eine erhebliche diskriminierende administrative Maßnahme i.S.d. Art. 9 Abs. 2 lit. b RL 2004/83/EG dar.

2. Das Recht auf eine angemessene und der Begabung des Kindes entsprechende Bildung ist in der Völkerrechtsgemeinschaft als Menschenrecht anerkannt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Iran, Flüchtlingsanerkennung, Recht auf Bildung, Schule, Menschenwürde, Afghanen, Tadschiken, Diskriminierung, Ethnie
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG.

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Eine Verfolgung i.S.d. Satzes 1 kann ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 - 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).

Nach Art. 2 lit. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling u. a. derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung i.S.d. Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (a), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist (b). Der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG enthaltene beispielhafte Katalog möglicher Verfolgungshandlungen macht deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen von Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird und der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris). Der Begriff der Verfolgungshandlung setzt aber nicht nur voraus, dass ein bestimmtes Verhalten des potentiellen Verfolgers für die schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts oder eine vergleichbare schwere Rechtsverletzung durch Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen (Art. 9 Abs. 1 lit. a und b der Richtlinie) ursächlich ist, sondern erfordert auch ein auf die Verletzung eines derart geschützten Rechtsguts zielendes Verhalten (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55).

Nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG kann Schutz geboten werden vom Staat (a) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (b). Gemäß Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn die unter Absatz 1 Buchstaben a) und b) genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat.

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Zwar bleibt der der Prognose zugrundezulegende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 - InfAuslR 2010, 410). Hat ein Antragsteller indes bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten, für den streitet die widerlegbare tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u. a., Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 - a.a.O.).

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus dem Iran eine an die Rasse anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG erlitten. Er hat das Verfolgungsgeschehen im Iran sehr anschaulich und ohne Widersprüche geschildert. Das Gericht hatte an keiner Stelle der mündlichen Verhandlung den Eindruck, der Kläger versuche, eine Geschichte zu erzählen, die er selbst nicht erlebt hat.

Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger, dessen Vater iranischer Staatsangehöriger ist (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 30.11.2011 - A 11 K 2063/11), gemäß § 976 Nr. 2 iranisches ZGB auch iranischer Staatsangehöriger ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.11.2011 S. 39). Von Seiten des Großvaters des Klägers wurde jedoch versäumt, seinen Vater im Iran registrieren zu lassen. Spätere Versuche des Vaters des Klägers, iranische Dokumente über ihre iranische Staatsangehörigkeit zu erhalten, schlugen fehl. Trotz gerichtlicher Verpflichtung hat sich das zuständige Registeramt beharrlich geweigert, dem Kläger, seinem Vater und seinen Geschwistern Personalpapiere auszustellen. Aufgrund der fehlenden Personalpapiere war der Kläger gehindert, einen Schulabschluss zu erwerben und eine staatliche Schule zu besuchen. Iranische Kinder brauchen einen Geburtsschein, um sich bei einer Schule einschreiben zu können (vgl. Bundesamt für Migration, Schweizerische Eidgenossenschaft, Afghanen im Iran - Teil 2: Alltag und Rückkehr, 17.01.2008).

Diese Maßnahmen verletzten nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde des Klägers. Dies folgt bereits daraus, dass nach Art. 9 Abs. 2 lit. b RL 2004/83/EG Verfolgung im Sinne von Abs. 1 unter anderem auch gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen sind, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden. Die Weigerung iranischer Stellen, dem Kläger Personalpapiere auszustellen, stellt eine erhebliche diskriminierende administrative Maßnahme dar. Aufgrund dieses diskriminierenden Akts hat der Kläger weitere erhebliche Beeinträchtigungen erleiden müssen. Die Verweigerung der Ausstellung von Personalpapiere hatte zur Folge, dass der Kläger staatliche iranische Schulen nicht besuchen konnte und auf den von ihm besuchten nichtstaatlichen Schulen keinerlei Prüfungen ablegen durfte und keine Zeugnisse erhielt. Diese Verweigerung von angemessenen Bildungschancen versagte dem Kläger für sein gesamtes weiteres Leben in schwerwiegender Weise die Möglichkeit, sein Leben in eigener Selbstverantwortung zu bestimmen und zu planen. Im Übrigen ist das Recht auf eine angemessene und der Begabung eines Kindes entsprechende Bildung in der Völkerrechtsgemeinschaft als Menschenrecht anerkannt (vgl. VG Schleswig, Urt. v. 17.08.1984 - 15 A 391/83 - InfAuslR 1985, 99). Zwar können im Bereich der Asylgewährung nach Art. 16 a Abs. 1 GG Beeinträchtigungen anderer Rechte, wenn keine unmittelbare Gefahr für Leib, Leben oder Gesundheit besteht, nur dann asylbegründend wirken, sofern sie über das hinausgehen, was Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 - BVerfGE 54, 341; BVerwG, Beschl. v. 03.04.1995 - 9 B 758.94 - NVwZ-RR 1995, 607). Ob diese Anforderung auch im Bereich der Flüchtlingszuerkennung zu beachten ist, kann dahingestellt bleiben. Denn die vom Kläger erlittenen Beeinträchtigungen haben die iranischen Staatsangehörigen im Iran nicht allgemein system- und situationsbedingt hinzunehmen.

Die vom Kläger vor der Ausreise aus dem Iran erlittene Verfolgungshandlung knüpft an den Verfolgungsgrund der Rasse an (Art.10 Abs. 1 lit. a RL 2004/83/EG). Dem Kläger wurde regelmäßig seine Abstammung von seiner afghanischen Großmutter entgegengehalten. Er hat glaubhaft dargelegt, dass er deshalb in der Schule mit dem Schimpfwort "Afghane" belegt wurde. Afghanen gelten im Iran aber generell als Bürger zweiter Klasse; in der Bevölkerung haben sie ein schlechtes Image (vgl. Bundesamt für Migration, Schweizerische Eidgenossenschaft, Afghanen im Iran - Teil 2: All10 tag und Rückkehr, 17.01.2008; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.11.2011 S. 48). Dass der Kläger die iranische und nicht die afghanische Staatsangehörigkeit besitzt, ist hierbei unerheblich (Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83/EG).

Einen ausreichenden Schutz vor den erlittenen Eingriffen im Iran hat der Kläger nicht erhalten. Zwar hat der Kläger dargelegt und auch durch Vorlage von Urkunden nachgewiesen, dass die Registerbehörde der Stadt Mashhad in den von seinem Vater eingeleiteten und durchgeführten gerichtlichen Verfahren verpflichtet wurde, ihm und seinen Familienangehörigen Personalpapiere auszustellen. Er hat jedoch außerdem glaubhaft dargelegt, dass die Registerbehörde trotz Vollstreckungsanträgen durch den von seinem Vater beauftragten Rechtsanwalt der gerichtlichen Verpflichtung nicht nachgekommen ist. Bei dieser Sachlage kann von einer wirksamen Schutzgewährleistung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG nicht ausgegangen werden.

Da der Kläger den Iran aufgrund erlittener Verfolgung verlassen hat, findet auf ihn die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG Anwendung. Für ihn streitet somit die tatsächliche Vermutung, dass sich die frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Stichhaltige Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften können, sind nicht ersichtlich.

Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung von Ziffern 3 und 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts begehrt wird. Denn die Verpflichtung des Bundesamts zur Flüchtlingszuerkennung lässt die negative Feststellung des Bundesamts zu § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG angesichts des Eventualverhältnisses (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997 - 9 C 19.96 - BVerwGE 104, 260) gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist; entsprechendes gilt im Hinblick auf die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes vom 27.05.2011 (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.1998 - 9 C 1.97 - BVerwGE 106, 339 und Urt. v. 26.06.2002 - 1 C 17.01 - BVerwGE 116, 326). [...]