Einer Tamilin, die mit einem jungen Tamilen befreundet ist, in dessen Wohnung offenbar Material für den Bau von Bomben gefunden wurde, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da sie bei einer Rückkehr (erneut) asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird.
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Dies zugrundegelegt, ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie ist vorverfolgt aus Sri Lanka ausgereist, und es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie bei einer Rückkehr nach Sri Lanka erneut asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird.
Die Klägerin war in Sri Lanka im Zeitpunkt ihrer Ausreise im März 2010 ihr individuell und unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgesetzt. Ihre Gefährdung hatte sich zur Überzeugung des Gerichts damals bereits so weit verdichtet, dass sie ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen musste.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung detailliert, anschaulich und ganz offensichtlich in lebendiger Erinnerung an die Vorfälle im Frühsommer 2009 geschildert, wie sie in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten ist. Obwohl zwischen ihren Angaben vor dem Bundesamt im April 2010 und ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung fast zwei Jahre später kleinere Widersprüche festzustellen sind, sind ihre Darlegungen in vollem Umfang glaubhaft. Das Gericht ist überzeugt davon, dass sie u.a. wegen ihrer Freundschaft mit dem jungen Tamilen ..., in dessen Wohnung offenbar Material für den Bau von Bomben gefunden wurde, und des Umstandes, dass sie sowohl diesem jungen Mann und seinen Freunden als auch einer - wohl der LTTE nahe stehenden - tamilischen Familie in ihrem, der Klägerin, Haus bei der Wohnungssuche behilflich war, von den Sicherheitskräften verdächtigt wurde, die LTTE zu unterstützen.
Allerdings haben die Vernehmungen im Mai und Juni 2009, denen die Klägerin ausgesetzt war, noch nicht die asylerhebliche Eingriffsschwelle überschritten. Die Klägerin ist bei diesen Vernehmungen weder misshandelt noch bedroht worden. Das Gericht geht aber davon aus, dass die Klägerin, wenn sie nicht geflohen wäre und sich versteckt gehalten hätte, in absehbarer Zeit mit großer Sicherheit verhaftet und dann wahrscheinlich gefoltert worden wäre. Das Gericht gründet seine Überzeugung auf die Ausführungen des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 2. September 2009. Dort heißt es unter anderem (S. 13 und 20 f.):
"Jeder, der in den Augen der Sicherheitsorgane der Nähe zur LTTE verdächtig ist, muss auch heute, nach Ende des Bürgerkrieges, damit rechnen, verhaftet zu werden. ... Tamilen sind im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen generell weit überproportional von Festnahmen und langen Haftzeiten betroffen. Wer einmal in den Verdacht von LTTE-Nähe geriet, auch wenn sie seinerzeit nicht nachgewiesen werden konnte, muss damit rechnen, dass der Verdacht ihm später erneut zur Last gelegt wird. ... Offiziell bleiben Folter oder Misshandlungen zwar nach wie vor verboten. Doch haben seitdem (i.e. Dezember 2006) die Vorwürfe über Folterungen durch die Sicherheitskräfte wieder erheblich zugenommen. ... Der Sonderberichterstatter der UN zur Folter ... hat nach seinem Sri Lanka-Besuch im Herbst 2007 festgestellt, dass Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet werde.
Er hat eine drastische Überbelegung der für 8.200 Häftlinge ausgelegten Gefängnisse mit 28.000 Gefangenen festgestellt. Deshalb und wegen unzureichender sanitärer Bedingungen entsprächen die sri-lankischen Haftanstalten nicht internationalen Kriterien."
Aufgrund der danach zu bejahenden Vorverfolgung der Klägerin gilt zu ihren Gunsten grundsätzlich die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Es besteht in ihrem Fall auch keine Veranlassung, von der Vermutung abzuweichen, dass sich die frühere Bedrohung bei einer Rückkehr nach Sri Lanka wiederholen wird. Es gibt keine stichhaltigen Gründe, die die Vermutung entkräften könnten. Im Gegenteil spricht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Sri Lanka erneut in das Visier der Sicherheitskräfte geraten wird. Da sie keinen sri-lankischen Reisepass vorlegen können wird, sondern nur ein von einer sri-lankischen Auslandsvertretung ausgestelltes Reisedokument zur einmaligen Rückkehr nach Sri Lanka (Identity Certificate Overseas Missions, ICOM, auch Emergency-Pass genannt), wird sie nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 1. September 2011 (S. 26) voraussichtlich von der Einreisebehörde und von der Kriminalpolizei (CID) einer Personenüberprüfung unterzogen und zu Identität, persönlichem Hintergrund und Reiseziel befragt werden. Dabei wird man feststellen, dass sie aus Jaffna, also dem Norden Sri Lankas, stammt und (auch) tamilisch spricht. Damit besteht für die Sicherheitskräfte zumindest ein Anfangsverdacht, dass sie der LTTE nahe steht. Es spricht nichts dafür, dass die Klägerin diesen Verdacht einer Nähe zu LTTE wird ausräumen können. Deshalb besteht für die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Festnahme und damit einhergehenden Misshandlungen. Ihr ist deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides wird aufgehoben, weil die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, der im Rahmen des § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG notwendigen Ermessensentscheidung nicht Rechnung trägt.
Die Abschiebungsandrohung (Ziffer 4 des Bescheides vom 16. Juni 2010) ist ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen. [...]