BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.02.2002 - 2 BvR 1937/01 - asyl.net: M1948
https://www.asyl.net/rsdb/M1948
Leitsatz:

Maßnahmen eines Staates verlieren nicht dadurch ihre Asylrelevanz, dass sie durch falsche Verdächtigungen eines aus asylirrelevanten Motiven handelnden Denunzianten ausgelöst worden sind; fehlen einem schriftlichen Gutachten in einem Asylverfahren nach Ansicht des VG Details und Hintergründe und hält das VG das Gutachten für zu allgemein, so bedarf es der Ladung des Gutachters zur Erläuterung seines Gutachtens; andernfalls liegt ein verfassungsrechtlich erheblicher Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO vor.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Weigerung, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, Bewaffnete Auseinandersetzungen, Körperverletzung, Haftbefehl, Haft, Dorfschützer, Denunziation, PKK, Verdacht der Unterstützung, Sachverständigengutachten, Beweiswürdigung, Sachaufklärungspflicht, Rechtliches Gehör
Normen: GG Art. 103 Abs. 1; VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu den Ausführungen des von ihm beauftragten Gutachters betreffend die Denunziation des Beschwerdeführers als vermeintliches PKK-Mitglied und die daraus für ihn bei einer Rückkehr in die Türkei resultierenden Gefahren halten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

Angesichts der Ausführungen des Gutachters zu den Gefahren, die für den Beschwerdeführer aus einer Denunzierung resultieren, konnte das Gericht es nicht dahingestellt sein lassen, ob der Beschwerdeführer tatsächlich denunziert worden ist. Dies wäre nur möglich, wenn eine falsche Vedächtigung keine asylrechtlich erhebliche Gefährdung des Beschwerdeführers mit sich bringen würde. Der Gutachter hat indessen darauf abgehoben, dass der Beschwerdeführer wegen der Denunzierung als vermeintlich aktiver Kämper oder Unterstützer der PKK damit rechnen müsse, bei der politischen Polizei intensiven Verhören zu eigenen Aktivitäten oder doch zu seinem Wissen über die Aktivitäten von führenden Kadern ausgesetzt zu werden. Diese Verhöre gingen routinemäßig mit Folter einher, und der Beschwerdeführer habe in den ersten vier Tagen nicht die Möglichkeit, einen Rechtsbeistand beizuziehen. Damit hat der Gutachter Gefahren aufgezeigt, die dem Beschwerdeführer gerade auch bei einer falschen Verdächtigung drohen.

Das Gericht verweist demgegenüber darauf, dass der Beschwerdeführer weder im Asylerstverfahren noch im Folgeverfahren eigene nennenswerte politische Aktivitäten dargelegt habe. Damit geht es offenbar davon aus, er könne die falsche Verdächtigung ohne Weiteres entkräften, ohne dass es dabei bereits zu asylerheblichen Übergriffen komme. Diese Möglichkeit ist aber nach den Feststellungen des Gutachters gerade nicht gegeben. Andere Erkenntnisquellen, die seine Auffassung stützen könnten, führt das Verwaltungsgericht in seinem Urteil nicht an. Unerheblich ist auch, aus welchen Motiven heraus die Denunziation des Beschwerdeführers erfolgt ist. Durch eine falsche Verdächtigung ausgelöste Maßnahmen des Staates, die beispielsweise zur Klärung eines Verdachts der Trägerschaft asylerheblicher Merkmale eingesetzt werden, verlieren nicht dadurch ihre asylerhebliche Qualität, dass der möglicherweise aus asylirrelevanten Motiven handelnde Denunziant sich gewissermaßen als mittelbarer Täter des staatlichen Machtapparates als Werkzeug bedient. Die Lage des davon Betroffenen kann in diesem Fall von der gleichen Ausweglosigkeit geprägt sein, wie sie beim tatsächlichen Träger verfolgungsverursachender Merkmale vorliegen kann; zu denken ist hierbei vor allem an den Fall, dass der Betroffene den Verdacht nicht zu entkräften und die wahren Zusammenhänge nicht aufzuzeigen vermag (vgl. hierzu Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November 1990 - 2 BvR 933/90 -, InfAuslR 1991, S. 25 28>; vom 17. April 1991 - 2 BvR 1686/90 -, InfAuslR 1992, S. 66 69>; vom 14. Januar 1992 - 2 BvR 472/91 -, InfAuslR 1992, S. 222 225 f.>, und vom 28. Januar 1993 - 2 BvR 1803/92 -, InfAuslR 1993, S. 142 144>, alle im Anschluss zu BVerfGE 80, 315 340>; 81, 142 151>).

Nicht nachvollziehbar ist schließlich, weshalb das Gericht den Sachverständigen nicht zur Erläuterung seines Gutachtens zur mündlichen Verhandlung geladen hat, wenn es dessen Ausführungen zur Denunzierung des Beschwerdeführers für "sehr allgemein" gehalten und weitere Details und Hintergründe vermisst hat. Hierin liegt ein verfassungsrechtlich erheblicher Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht gem. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist demnach aufzuheben, ohne dass es noch auf die zusätzlich erhobenen Gehörsrügen ankommt.