Es bestehen keine ernsthaften Zweifel daran, dass bei Zuständigkeit Italiens im Rahmen des Dublin II-Verfahrens eine Rückführung nach Italien keinen grundsätzlichen Bedenken begegnet.
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Die zulässige Klage, der nach § 75 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung zukommt, ist unbegründet. Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 08.07.2011 - 5 L 495/11 - im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Bezug genommen. Dort ist zutreffend ausgeführt, dass keine ernsthaften Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der Einschätzung bestehen, dass Italien für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig ist und eine Rückführung nach Italien keinen grundsätzlichen Bedenken begegnet.
Diese Einschätzung wird durch die Ausführungen des Bundesamtes im Entscheiderbrief 7/2011 "Flüchtlinge in Italien - Verfahrensgarantien gewährleistet?" unterstrichen. Dort heißt es, dass die Gerichte, die entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG einstweiligen Rechtsschutz gewährten, sich vielfach auf den Bericht über eine kirchlich-anwaltliche Recherchereise im Oktober 2010 (Asylverfahrensberaterin des evangelischen Dekanats Gießen Maria Bethke und Rechtsanwalt Dominik Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien, veröffentlicht von Pro Asyl im Februar 2011, www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2011/Italienbericht_FINAL_15MAERZ2011.pdf <Abruf 25.05.2011 >) sowie auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sicheren Drittstaatenregelung aus dem Jahre 1996 (BVerfGE 94, 49 (99 ff.)) stützten: [...]
Der Kammer ist bewusst, dass es sich bei dem Entscheiderbrief um eine Einschätzung der Beklagten handelt. Allerdings hat der Kläger in der Sache auch nichts vorgetragen, was dieser Einschätzung widerspricht. Im Gegenteil scheint er ein Paradebeispiel für das Funktionieren des Verfahrens in Italien zu sein. Er hat in Mailand Aufnahme und Unterkunft gefunden und auch Kontakt zu seinem Prozessbevollmächtigten aufgenommen, der dem Gericht die ladungsfähige Adresse mitgeteilt hat. Insoweit spricht gerade das vorliegende Verfahren gegen die Vorwürfe gegen das Funktionieren des Verfahrens in Italien.
Aus den von seinem Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Dokumenten, dem Beschluss der OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.03.2012 - 1 B 234/12.A - und der juristischen Bewertung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 21.12.2011 in den Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 - N.S. und M.E. - zum grundrechtskonformen Vollzug von Überstellungen nach der Verordnung (EG) Nr. 434/2003 (Dublin VO-II) vom 06.02.2012 ergibt sich keine durchgreifend andere Einschätzung.
Mit dem Beschluss vom 01.03.2012 hat das OVG Nordrhein-Westfalen als Gericht der Hauptsache im Verfahren auf bzw. nach Zulassung der Berufung gegen das stattgebende Urteil des VG Köln vom 16.11.2011 - 3 K 2890/11.A - wegen grundsätzlicher Bedeutung die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes angeordnet, mit dem die Abschiebung nach Italien angeordnet wurde. Zur Begründung heißt es in dem Beschluss in Übereinstimmung mit der Einschätzung des erkennenden Gerichts, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG verfassungskonform dahin auszulegen sei, dass er in Ausnahmefällen einstweiligen Rechtsschutz gegen Abschiebungen auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II-VO) ermöglicht. Das ist dann der Fall, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass der Asylbewerber von einem Sonderfall betroffen ist, der von dem der gesetzlichen Regelung in § 34 Abs. 2 AsylVfG zugrunde liegenden Konzept der normativen Versicherung nicht aufgefangen wird. Zwar geht auch Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO prinzipiell davon aus, dass ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, einen Asylantrag mangels Zuständigkeit nicht zu prüfen und den Asylbewerber an den zuständigen Mitgliedsstaat zu überstellen, keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung hat.
Nach der im Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen wiedergegebenen Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist eine Anwendung der Dublin II-VO auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die (Unions-) Grundrechte der Asylbewerber in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedsstaat beachtet werden, mit der Pflicht der Mitgliedsstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Dublin II-VO unvereinbar. Es obliegt den Mitgliedsstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den "zuständigen Mitgliedsstaat" im Sinne der Dublin II-VO zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden."
Hiervon ausgehend gelangt der durch § 34 Abs. 2 AsylVfG bestimmte prinzipielle Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes dann nicht zur Anwendung, wenn es durch Tatsachen gestützte und ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür gibt, dass bezogen auf den für zuständig erachteten Mitgliedsstaat nach den aktuellen Erkenntnissen über die dort bestehenden konkreten Verhältnisse das Konzept normativer Vergewisserung nicht greift. Letzteres ist (u.a.) der Fall, wenn sich der Mitgliedsstaat von den nach diesem Konzept als generell eingehalten vermuteten Verpflichtungen gelöst hat, also die allgemein europaweit vereinbarten Mindeststandards aufgrund von innerstaatlichen systemischen Mängeln des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen nicht (mehr) gewährleistet bzw. gewährleisten kann. Solches kann namentlich dadurch zum Ausdruck kommen, dass der betreffende Mitgliedsstaat dem betroffenen Ausländer keine ausreichende Chance einräumt, dass sein Schutzgesuch überhaupt ernsthaft geprüft wird, und/oder dass die humanitäre, vor allem wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnungssituation nicht dem Art. 4 der Grundrechte-Charta oder den in einschlägigen Richtlinien des Gemeinschaftsrechts vereinbarten Standards entspricht, so dass letztlich die Gefahr besteht, dass die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 -, juris (Nrn. 86, 94 und 99 der Entscheidung).
Bei Anlegung der für ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geltenden Maßstäbe hält des OVG Nordrhein-Westfalen das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles insbesondere aufgrund des für den betroffenen Ausländer erfolgreichen erstinstanzlichen Urteils im Hauptsacheverfahren für ernstlich wahrscheinlich, auch wenn es die vom Bundesamt beantragte Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen habe. Ob bzw. inwieweit das Konzept der normativen Versicherung in Italien generell noch greift, sei der Endentscheidung in dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.
Damit ist der Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.03.2012 - 1 B 234/12.A - für die Frage, ob bzw. inwieweit das Konzept der normativen Versicherung in Italien generell (noch) greift, unergiebig. Die weiteren Ausführungen in dem Beschluss stellen für die Stattgabe maßgeblich darauf ab, dass Maria Bethke und Dominik Bender in ihrem Bericht "Zur Situation der Flüchtlinge in Italien" vom 28.02.2011 als am meisten ins Auge stechenden Mangel den an Unterkünften und damit das Fehlen der Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse anführen. Nicht ohne Beachtung lässt das OVG Nordrhein-Westfalen, dass es neben den die Situation in Italien ähnlich negativ einschätzenden erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung auch eine Vielzahl von ebenfalls erstinstanzlichen Entscheidungen gibt, die die Situation unter Mitverwertung von im Wesentlichen denselben Erkenntnisquellen anders einschätzt. Maßgeblich hat des OVG Nordrhein-Westfalen darauf abgestellt, dass dem Asylbewerber im Falle seiner Überstellung nach Italien Obdachlosigkeit und die Unerreichbarkeit für Behörden und Gerichte drohe.
Zu dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren ist davon auszugehen, dass der Kläger in Mailand Unterkunft gefunden hat und für Behörden und Gerichte erreichbar ist.
Auch aus der juristischen Bewertung des EuGH-Urteils vom 21.12.2011 von Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx vom 06.02.2012 ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts kein durchschlagender Grund für einen Erfolg dieser Klage. Marx kommt in dieser Bewertung zu dem auch vom erkennenden Gericht vertretenen Ergebnis, dass es keine unwiderlegliche Vermutung der Sicherheit von Drittstaaten gibt und dass der Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen nach § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht greift, wenn es hinreichend greifbare Anhaltspunkte für die Annahme gibt, dass der "sichere" Drittstaat nicht in diesem Sinne "sicher" ist. Die weiteren Einschätzungen, dass u.a § 34a AsylVfG nicht mehr angewandt werden könne und den Gesetzgeber eine unionale Verpflichtung treffe, diese Vorschrift aufzuheben, drängen sich für das erkennende Gericht nicht auf. Anerkanntermaßen sind nationale gesetzliche Regelungen verfassungs- und unionsrechtskonform auszulegen. Dementsprechend trifft das Gericht die Pflicht, aus gegebenem Anlass zu prüfen, ob Italien im unionsrechtlichen Verständnis ein "sicherer" Drittstaat ist. Diese Prüfung ist erfolgt und zum Ergebnis gekommen, dass dies der Fall und Italien folglich für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist. Deshalb ist die Klage abzuweisen. [...]