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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 16.02.2012 - 23 K 202.11 V - asyl.net: M19513
https://www.asyl.net/rsdb/M19513
Leitsatz:

Eine Peruanerin, die aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheiten pflegebedürftig ist und keine Familienangehörigen in Peru hat, die sie pflegen könnten, ist auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe durch ihre Tochter angewiesen; diese Hilfe kann zumutbarerweise nur im Bundesgebiet erbracht werden, wenn die Tochter einen verfestigten Aufenthalt und deutsche Familienangehörige hat.

Schlagwörter: Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige, außergewöhnliche Härte, Härte, Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte, pflegebedürftig, Pflege, Pflegebedürftigkeit
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 68 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin kann allein ein eigenständiges Leben nicht mehr führen. Ausweislich der fachärztlichen Feststellungen von Dr. S. ist die Klägerin pflegebedürftig: Sie ist auf Hilfe bei nahezu sämtlichen Alltagstätigkeiten, nämlich bei der täglichen Körperpflege, beim Bereitstellen und der Einnahme von Medikamenten, bei der Zubereitung der Mahlzeiten, dem Einkauf von Lebensmitteln, der Reinigung der Wohnung und bei der Fortbewegung, angewiesen. Angesichts dieser umfassenden Einschränkungen ist kaum ein Lebensbereich ersichtlich, den die Klägerin ohne fremde Hilfe selbstständig bewältigen kann. Zudem erwartet die Medizinerin, bei der es sich um eine Vertrauensärztin der Botschaft handelt, eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin. Diese Befunde hat das Auswärtige Amt nicht hinreichend in Zweifel gezogen, indem ihrer Meinung nach die von der Ärztin diagnostizierten Grunderkrankungen die von ihr ebenfalls festgestellte Pflegebedürftigkeit nicht rechtfertigten. Denn damit hat das Auswärtige Amt lediglich seine – laienhaften – medizinischen Ansichten gegen die Sachkunde der Ärztin gestellt, ohne konkret deren Sachkunde in Zweifel zu ziehen oder konkret die Unrichtigkeit der Befunde aufzuzeigen. Darüber hinaus hat die Botschaft der Klägerin keinen weiteren (Vertrauens-)Arzt benannt, durch den sie sich erneut begutachten lassen sollte. Dagegen spricht für die Richtigkeit der Feststellungen von Dr. S. die Befunde des Psychiaters Dr. L. Nach dessen Untersuchungsergebnissen liegt bei der Klägerin unter anderem ein langsamer Verlust der motorischen Fähigkeiten, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses vor. Ferner hat der Schwiegersohn der Klägerin, Herr M., in der mündlichen Verhandlung erhebliche motorische Einschränkungen der Klägerin, etwa die Unfähigkeit, sich zu bücken, geschildert. Schließlich dürfen die Anforderungen an die bereits eingetretene Schwere der Pflegebedürftigkeit nicht überspannt werden. Denn die Klägerin muss für die bei einem Nachzug notwendige Flugreise ins Bundesgebiet reisefähig sein, so dass eine – später eintretende – schwere Pflegebedürftigkeit und damit verbundene Reiseunfähigkeit den Nachzugsanspruch vereitelte. Bereits im September 2010 bestand laut Dr. S. nur noch eingeschränkte Flugtauglichkeit; sowohl sie als auch Dr. L. erwarten eine weitere Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Klägerin.

2. Angesichts ihrer Pflegebedürftigkeit ist die Klägerin auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe durch ihre Tochter, Frau H., angewiesen; diese Hilfe kann zumutbarerweise nur im Bundesgebiet erbracht werden.

Die Klägerin hat keine näheren Verwandten in Peru, die ihre Sorge und Pflege übernehmen könnten. Ihr Ehemann ist vor vielen Jahren verstorben. Ihre einzige Schwester ist 85 Jahre alt und selbst ein Pflegefall. Außer ihrer im Bundesgebiet lebenden Tochter hat sie keine Kinder.

Sie muss sich auch nicht auf professionelle Pflegedienste oder -einrichtungen in ihrem Heimatland verweisen lassen. Da die familiäre Lebenshilfe Ausfluss der grundrechtlich geschützten familiären Beistandsgemeinschaft ist, kommt es nicht darauf an, dass die Hilfe im Herkunftsland auch von familienfremden Personen erbracht wird oder werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. August 1996 – 2 BvR 1119/96 – juris, Rdnr. 5; VGH Mannheim, Beschluss vom 15. Februar 1995 – 11 S 2954/94 – juris, Rdnr. 9). Denn das Wesen der Familie als Beistandsgemeinschaft wird gerade dadurch geprägt, dass ein Familienmitglied einem anderen Familienmitglied die Lebenshilfe tatsächlich gewährt, die dieses benötigt. Dies gilt zuvörderst für die Pflege von Eltern durch ihre Kinder. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sie bereits von Gesetzes wegen einander Beistand und Rücksicht schuldig sind (§ 1618a BGB). Da die Klägerin mit dem Nachzug bezweckt, von ihrer Tochter gepflegt zu werden, können sie nicht darauf verwiesen werden, dass die notwendigen Hilfeleistungen auch von anderen Personen oder Sozialdiensten erbracht werden könnten (vgl. OVG Münster, Urteil vom 24. Februar 1999 – 17 A 139/97 –, juris, Rdnr. 16; VG Berlin, Urteil vom 27. November 2009 – VG 29 K 33.09 V –; VGH München, Beschluss vom 29. November 2010 – 19 CS 10.2209 – juris, Rdnr. 7; Hailbronner, Ausländerrecht, 57. Akt., § 36 AufenthG, Rdnr. 31; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, 63. Lfg., § 36 AufenthG, Rdnr. 28 f.; a.A. OVG Berlin- Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – OVG 3 B 17.10 –, juris, Rdnr. 29). Ohne Bedeutung ist, dass die familiäre Lebenshilfe derzeit noch nicht tatsächlich erbracht wird – was bei Nachzugskonstellationen regelmäßig der Fall sein wird –, denn die Schutzwirkungen des Grundrechts auf Familie (und Ehe) aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG greifen nicht erst, wenn die familiäre (oder eheliche) Lebensgemeinschaft tatsächlich besteht, sondern bereits dann, wenn ihre Herstellung nach einer Einreise ins Bundesgebiet zu erwarten ist (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2004 – BVerwG 1 B 111.04 –, juris, Rdnr. 3). Dies ist hier der Fall. Die Klägerin soll in den Haushalt ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes aufgenommen werden, damit diese die notwendige Lebenshilfe leisten kann. Dies ist ihr auch möglich, da sie keiner Berufstätigkeit nachgeht. Anhaltspunkte, dass diese Absichtsbekundungen lediglich vorgeschoben sind, um der Klägerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen, bestehen nicht.

Die familiäre Lebenshilfe kann die Tochter der Klägerin auch nicht in deren Heimatland Peru erbringen. Es ist jener nicht zuzumuten, ihre Tochter und ihren Ehemann, beide deutsche Staatsangehörige, im Bundesgebiet zurückzulassen, um die Pflege ihrer Mutter zu übernehmen. Schon allein wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit müssen sich diese nicht darauf verweisen lassen, gleichermaßen nach Peru auszuwandern, zumal jedenfalls Herr M. keine Verbindungen zu diesem Land aufweist. Darüber hinaus wäre er im Falle einer Ausreise aus dem Bundesgebiet gezwungen, seine Erwerbstätigkeit aufzugeben, so dass die materielle Lebensgrundlage der Familie gefährdet wäre.

Der Umstand, dass bei der Ausreise der Tochter der Klägerin aus Peru für jene bereits absehbar gewesen sein könnte, dass diese pflegebedürftig wird, vermag nichts daran zu ändern, dass diese ein eigenständiges Leben in Peru nicht mehr führen kann und auf Hilfeleistungen durch ihre Tochter angewiesen ist. [...]