VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 05.10.2011 - 9 A 262/10 MD - asyl.net: M19520
https://www.asyl.net/rsdb/M19520
Leitsatz:

Asylbewerbern, die illegal aus Syrien ausgereist sind, droht bei Rückkehr nach Syrien Folter. Dabei handelt es sich um Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, da der syrische Staat derzeit die Asylbeantragung im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise generell - mithin in stigmatisierender Weise - als Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung, also als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber dem eigenen Staat verletzt.

Schlagwörter: Syrien, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, illegale Ausreise, unerlaubte Ausreise, Folter, politische Verfolgung, Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Es besteht indes ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG. Dem Asylbewerber droht wegen der illegalen Ausreise, des Aufenthalts in der Bundesrepublik und der Asylantragstellung bereits mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. [...]

b) Es kann hier offenbleiben, ob der Asylbewerber vorverfolgt ausgereist ist, denn das Gericht ist überzeugt davon, dass dem Asylbewerber bei Rückkehr nach Syrien unter Beachtung der vorstehend aufgeführten Kriterien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Das Gericht ist unter Zugrundelegung der ihm zur Verfügung stehenden Auskünfte zum Herkunftsland Syrien überzeugt davon, dass der Asylbewerber aufgrund der illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung in der Bundesrepublik und des längeren Aufenthalts in der Bundesrepublik bei Rückkehr von Folter bedroht ist (diese Einschätzung der Gefahrenlage teilen das VG Köln, U. v. 11.04.2011, 20 K 2727/10.A, S. 5 ff. EA; VG Stuttgart, U. v. 06.05.2011, A 7 K 510/09, Rn. 22 ff., zitiert nach juris). Dabei handelt es sich um politische Verfolgung (vgl. auch VG Würzburg, U. v. 08.06.2011, Nr. W 2 K 10.30159, für den Fall eines exilpolitisch tätigen Syrer). Denn nach der sich aus der Berichterstattung in den Medien ergebenden Auskunftslage ist davon auszugehen, dass der syrische Staat derzeit das Stellen eines Asylantrages im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise generell - mithin in stigmatisierender Weise - als Anknüpfung und Ausdruck einer politischen missliebigen Gesinnung, also als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber dem eigenen Stadt verletzt.

Der syrische Staat handelt somit mit politischer Verfolgungsmotivation (vgl. zu den Voraussetzungen für die Bewertung der Verfolgung als politische bei Verfolgung wegen illegaler Ausreise/Asylantragstellung: BayVGH, U. v. 07.12.2000, 23 B 99.33127, Rn. 24-26, zitiert nach juris). Diejenigen, die sich aus Furcht vor bewaffneten Zusammenstößen nicht lediglich in die Nachbarländer begeben haben, sondern dem Schutz eines mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich freundschaftlich verbundenen Staates unterstellt haben, müssen bei Rückkehr nach Syrien zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, als Abtrünnige oder Landesverräter behandelt zu werden. In Anbetracht der der Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnismittel, die ungeachtet ihrer Datierung Beleg für die Situation in Syrien nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt (vgl. U. v. 25.5.2011, 3 L 374/09, S. 18 EA) sind, vermag das erkennende Gericht die dort getroffene Beurteilung nicht mehr zu teilen. Die Entscheidung handelt das hier erörterte Problem zudem nur in wenigen Sätzen ab und beruft sich auf einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Nordrhein-Westfalen (OVG NRW vom 09.05.2011, 14 A 1049/11.A, dort Rn. 11, 12, zitiert nach juris), welches sich indes nur kursorisch mit den bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung vorhandenen Erkenntnissen auseinandersetzt. Im Gegensatz dazu setzt sich die Beklagte in vielen anhängigen Asylverfahren erfreulich detailliert mit den Verhältnissen in Syrien auseinander. Es ist indes nur schwer nachvollziehbar, wie sie bei dieser zutreffenden Wiedergabe der Ereignisse, dann mit Entscheidungen und Gutachten aus einer Zeit, zum Teil fünf Jahre vor Beginn der Unruhen, argumentiert. Insoweit meint das Gericht auch nicht, wie die Beklagte ausführt, dass es keine Erkenntnisquellen für eine Verschärfung der Lage gibt (vgl. die nachfolgenden Ausführungen), zumal die Beklagte selbst gerade solche anführt. Denn Erkenntnisquellen sind weder nur amtliche, etwa Lageberichte etc., noch nur solche, in denen unmittelbar über Tatsachen - wie Folter bei Rückkehr aus der Bundesrepublik Deutschland - berichtet wird, die es vorliegend in rechtlicher Hinsicht zu beurteilen gilt. [...]