LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.01.2012 - L 19 AS 383/11 - asyl.net: M19529
https://www.asyl.net/rsdb/M19529
Leitsatz:

Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II erfasst nicht den Nachzug eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehegatten. Somit ist der nachziehende ausländische Ehegatte in den ersten drei Monaten nach Einreise nicht vom Bezug von SGB II-Leistungen ausgeschlossen.

Schlagwörter: Leistungsausschluss, deutscher Ehegatte, eigenständiges Aufenthaltsrecht,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 3, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II nach § 19 Abs. Satz 1 SGB II i.d.F. bis zum 31.12.2010 - wie vom Sozialgericht ausgeurteilt - in der Zeit vom 14.02. bis 02.05.2010 zu.

Im Zeitraum vom 14.02. bis 2.05.2010 hat der Kläger die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II dem Grunde nach erfüllt. In diesem Zeitraum hat er das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II gewesen, da weder er, seine Ehefrau noch deren Tochter T, mit denen er eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3a, 4 SGB II gebildet hat, über Einkommen oder Vermögen verfügt haben, das seinen Lebensunterhalt gesichert hat. Der Kläger ist erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II und nach § 8 Abs. 2 SGB II i.d.F. bis zum 31.03.2011 gewesen. Er ist in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ebenfalls ist die Aufnahme einer Beschäftigung i.S.v. § 8 Abs. 2 SGB II erlaubt gewesen, da ihm in der Fiktionsbescheinigung wie auch in der Aufenthaltsgenehmigung die Ausübung jedweder Beschäftigung gestattet gewesen ist. Vor der Erteilung der Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG am 09.03.2010 hat der Kläger über ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger einer Deutschen nach § 28 Abs. 1 AufenthG verfügt, das die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit mit einschließt (§ 28 Abs. 5 AufenthG). Mithin hätte ihm die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden können (vgl. zur Auslegung des § 8 Abs. 2 SGB II a. F.: BSG Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 24/07 R = juris Rn 22).

Der Kläger hat auch im streitbefangenen Zeitraum einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) gehabt. Er ist am 14.02.2010 in die Bundesrepublik eingereist. Seitdem hält er sich hier unter Umständen auf, die erkennen lassen, dass er nicht nur vorübergehend verweilt. Er ist zwecks Zuzugs zu seiner schwangeren Ehefrau eingereist und lebt seitdem mit ihr zusammen. Am 03.05.2010 hat er eine unbefristete Beschäftigung aufgenommen. Im streitbefangenen Zeitraum hat sich der Kläger auch berechtigterweise in der Bundesrepublik aufgehalten, da er mit einem Visum eingereist ist, die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 28 AufenthG zwecks Familiennachzug zu einer Deutschen beantragt hat und aufgrund der erteilten Zustimmung des Ausländeramtes der Stadt L zu seiner Einreise mit einer Erteilung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung rechnen durfte. Die Aufenthaltsgenehmigung nach § 28 AufenthG wurde ihm auch am 18.04.2011 erteilt. Zuvor hat sein Aufenthalt auf Grund von § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als erlaubt gegolten.

Zu Ungunsten des Klägers greift auch zur Überzeugung des Senats nicht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.d.F. ab dem 28.08.2007 (Art. 6 Abs. 9 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. I, 1970) ein. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörige für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts von den Leistungen ausgenommen. Von diesem Leistungssauschluss werden Ausländer, die als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder eines Arbeitnehmers, eines Selbständigen oder eines auf Grund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) Freizügigkeitsberechtigten diesem in die Bundesrepublik nachziehen, nicht erfasst. Der Senat schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts an, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nach ihrem Wortlaut, ihrem Zusammenhang, ihrem Zweck sowie den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte nicht den Nachzug eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehegatten erfasst. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die erstinstanzlichen Ausführungen.

Diese Auffassung findet zur Überzeugung des Senats eine Stütze im Regelungsgehalt der Vorschrift, in der zwischen Ausländern und ihren Familienangehörigen differenziert wird. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unterscheidet schon nach ihrem Wortlaut zwischen Ausländern, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik haben, und Ausländern, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein aufgrund ihres Familienstatus haben, also ihr Aufenthaltsrecht von einer anderen Person ableiten (vgl. Thie/Schoch in LPK-SGB II, § 7 4 Aufl., Rn 25; so auch im Ergebnis SG Berlin, Urteil vom 18.04.2011 - S 201 AS 45186/09). Die gegenteilige Auffassung, dass durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II grundsätzlich alle Ausländer - ausgenommen der Personenkreis des § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II sowie Arbeitnehmer, Selbständige, Freizügigkeitsberechtigte nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU - während der ersten drei Monate nach ihrer Einreise vom Leistungsbezug ausgeschlossen sind, unabhängig von der Herleitung ihres Aufenthaltsrechts (so anscheinend LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.04.2011 - L 3 AS 1411/11 ER-B -, SG Stuttgart, Beschluss vom 24.03.2011 - S 24 As 1359/11 ER - ohne nähere Begründung) ergibt sich demgegenüber nicht aus dem Wortlaut der Norm. Wenn der Gesetzgeber den generellen Ausschluss von Ausländern während der ersten drei Monate nach ihrer Einreise beabsichtigte hätte, wäre eine Differenzierung zwischen Ausländern und deren Familienangehörigen nicht erforderlich gewesen (siehe auch BT-Drs. 16/688 S. 13).

Zudem sprechen unter Berücksichtigung der gleichzeitigen Neureglung des Nachzugsrechts von ausländischen Familienangehörigen zu ihrem deutschen Familienangehörigen im Ausländerecht (§ 28 AufenthG) - wobei es für die Berechtigung des Nachzugs in der Regel nicht auf einen ausreichenden Wohnraum und der Unterhaltssicherung ankommt (vgl. Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 28 Rn 6) - sowohl systematische als auch teleologische Gründe gegen den Ausschluss eines ausländischen Ehegatten während der ersten drei Monate nach seiner Einreise zwecks Zuzugs zu einem deutschen Ehegatten aus dem Leistungssystem nach dem SGB II. Ein solcher Leistungsausschluss würde, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, die wirtschaftliche Lebensgrundlage des deutschen Ehepartners, der seinen Ehepartner trotz fehlender Unterhaltsfähigkeit während der ersten drei Monate nach seiner Einreise unterhalten müsste, gefährden. Dabei ist die Wertentscheidung des Grundgesetzes in Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, wonach es grundsätzlich allein den Ehepartnern zusteht, selbstverantwortlich und frei von staatlicher Einflussnahme den räumlichen und sozialen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens zu bestimmen. Die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam in der Bundesrepublik zu leben, verdient demnach besonderen staatlichen Schutz, falls einer der Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (BVerfG Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - = juris Rn 33). Dieser besondere staatliche Schutz rechtfertigt nicht nur, die Zulässigkeit des Zuzugs eines ausländischen Familienangehörigen zu einem deutschen Familienangehörigen ausländerrechtlich in der Regel nicht von einem Nachweis der Unterhaltssicherung i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abhängig zu machen, sondern auch, dass ausländische Familienangehörige eines Deutschen unmittelbar nach ihrer Einreise in das Leistungssystem des SGB II einbezogen werden. Der Gesetzesbegründung, wonach EU-Bürger, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik einreisen, nicht von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II erfasst sind (BT-Drs. 16/688 S. 13), ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber augenscheinlich davon ausgegangen ist, der Fall des Nachzugs eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehegatten in die Bundesrepublik werde vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht erfasst. Denn eine Differenzierung zwischen ausländischen Ehegatten, die Unionsbürger sind, und denen, die Drittstaatenangehörige sind, hat im Gesetz keinen Niederschlag gefunden, insbesondere nicht im Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II.

Anhaltspunkte für das Vorliegen weiterer Leistungsausschlüsse sind nicht ersichtlich. Der Kläger, vertreten durch seine Ehefrau nach § 38 SGB II, hat am 12.02.2010 einen Leistungsantrag gestellt.

Demnach sind die Voraussetzungen für den Bezug einer Regelleistung nach § 20 Abs. 3 SGB II für die Zeit vom 14.02. bis 02.05.2010 sowie von anteiligen Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für die Zeit vom 01.05. bis 02.05.2010 gegeben. [...]