BlueSky

VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 31.01.2012 - 2 K 667/10 - asyl.net: M19532
https://www.asyl.net/rsdb/M19532
Leitsatz:

Zum Begriff des "Vertretenmüssens" einer Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bei der Einbürgerung

Schlagwörter: Einbürgerung, Sozialleistungen, Leistungsbezug, Vertretenmüssen
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 , StAG § 40c, StAG § 8 Abs. 1 Nr. 4, StAG § 8 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte über seinen Antrag auf Einbürgerung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheidet. Der die Einbürgerung ablehnende Bescheid des Beklagten vom 10.06.2010 ist im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO).

Einer möglichen Einbürgerung des Klägers nach Maßgabe des § 10 StAG steht bereits zwingend entgegen, dass dieser den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann und die Inanspruchnahme dieser Leistungen auch zu vertreten hat (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG). Auf die Überprüfung der übrigen Voraussetzungen des § 10 StAG, insbesondere des Unbescholtenheitserfordernisses gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG, die nur im Rahmen einer Neubescheidung hätte erfolgen können, kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr an.

Das Einbürgerungsbegehren des Klägers beurteilt sich - nachdem das Staatsangehörigkeitsrecht durch das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz Änderungen erfahren hat - nach der Übergangsvorschrift des § 40 c StAG n.F.. Danach sind auf Einbürgerungsanträge, die bis zum 30.03.2007 gestellt worden sind, die §§ 8 bis 14 und § 40 c weiter in ihrer vor dem 28.08.2007 (BGBl. I Seite 1970) geltenden Fassung anzuwenden, soweit sie günstigere Bestimmungen enthalten. Der Günstigkeitsvergleich ist in Bezug auf jede einzelne Einbürgerungsvoraussetzung, die nicht nach beiden Gesetzesfassungen erfüllt ist, vorzunehmen; es ist die jeweils dem Einbürgerungsbewerber günstigere Regelung anzuwenden. Ein Einbürgerungsbegehren kann sich so teils nach bisherigem Recht, teils nach neuem Recht beurteilen (vgl. Berlit, Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht durch das EU- Richtlinienumsetzungsgesetz, InfAuslR 2007, 457, 466).

Für das Einbürgerungsbegehren des Klägers gilt, dass § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, wonach der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten können muss, es sei denn, er hat die Inanspruchnahme nicht zu vertreten, durch das Richtlinienumsetzungsgesetz sachlich unverändert geblieben ist (vgl. Berlit, a.a.O., S. 465; die bisherige Ausnahmeregelung des Nichtvertretenmüssens ist lediglich redaktionell in die Einbürgerungsvoraussetzung selbst verlagert worden).

Da die bisherige Regelung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG für den Kläger nicht günstiger ist, beurteilt sich sein Einbürgerungsbegehren insoweit nach aktuellem Recht.

Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG ist zunächst festzuhalten, dass der Kläger zumindest seit 2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bezieht und damit den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nicht im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 1. Alternative StAG ohne öffentliche Mittel bestreiten kann. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist des Weiteren davon auszugehen, dass der Kläger die Inanspruchnahme der öffentlichen Mittel zu vertreten hat, so dass von dem Erfordernis der wirtschaftlichen Eigensicherung auch nicht gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 2. Alternative StAG abgesehen werden kann.

Ob der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu vertreten hat, ist eine verwaltungsgerichtlich uneingeschränkt überprüfbare Rechtsfrage; ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum kommt der Einbürgerungsbehörde insoweit nicht zu. Der Begriff des zu vertretenden Grundes ist wertneutral auszulegen und setzt kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus. Er beschränkt sich nicht auf vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass der Ausländer durch ein ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den - fortdauernden - Leistungsbezug gesetzt hat (vgl. Urteile der Kammer vom 19.05.2009 - 2 K 870/08 - und vom 27.09.2011 - 2 K 42/10 -; BVerwG, Urteil vom 19.02.2009 - 5 C 22.08 -, BVerwGE 133, 153; VG Aachen, Urteil vom 11.12.2008 - 8 K 1274/06 -, dokumentiert bei juris; Berlit in GK-StAR, § 10 StAG Rdnr. 242 m.w.N.).

Der vom Begriff des zu vertretenden Grundes bzw. des Vertretenmüssens vorausgesetzte objektive Zurechnungszusammenhang zwischen zu verantwortendem Verhalten und Leistungsbezug erfordert aber, dass das Verhalten des Verantwortlichen für die Verursachung oder Herbeiführung des in Bezug genommenen Umstandes zumindest nicht nachrangig, sondern hierfür, wenn schon nicht allein ausschlaggebend, so doch maßgeblich bzw. prägend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.02.2009 - 5 C 22.08 -, a.a.O.).

Bei einem arbeitslosen Ausländer wie dem Kläger ist u.a. dann davon auszugehen, dass er den Leistungsbezug zu vertreten hat, wenn er sich nicht oder nicht hinreichend um die Aufnahme einer neuen Beschäftigung bemüht oder wenn er durch ihm zurechenbares Verhalten zu erkennen gibt, dass er nicht bereit ist, eine ihm zumutbare Beschäftigung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes aufzunehmen. Nicht zu vertreten hat es der Einbürgerungsantragsteller, wenn der Leistungsbezug wegen Verlusts des Arbeitsplatzes durch gesundheitliche, betriebsbedingte oder konjunkturelle Ursachen begründet ist oder wenn der arbeitslose Ausländer sich hinreichend intensiv um eine Beschäftigung bemüht, aber aus konjunkturellen Gründen oder deswegen keine Beschäftigung findet, weil er objektiv vermittlungshemmende Merkmale aufweist. Insbesondere Personen, die nach Alter, Gesundheitszustand oder sozialer Situation sozialrechtlich nicht erwerbsverpflichtet sind, haben ihren Leistungsbezug normativ regelmäßig nicht zu vertreten.

Die Anforderungen, die an Art und Umfang der von einem arbeitslosen Einbürgerungsbewerber zu verlangenden Eigenbemühungen um eine neue Arbeitsstelle zu stellen sind, lassen sich nicht abstrakt-generell festlegen, sondern sind nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Bedeutung kommt dabei insbesondere den die individuellen Chancen des Ausländers auf dem Arbeitsmarkt bestimmenden Faktoren, wie u.a. Ausbildungsstand, Qualifikation, Alter, Behinderungen, Gesundheitszustand oder auch Dauer der Beschäftigungslosigkeit zu.

Der den Einbürgerungsanspruch geltend machende Ausländer hat - begrenzt durch den Amtsermittlungsgrundsatz - darzulegen, dass die Voraussetzungen für ein Absehen von dem Erfordernis der wirtschaftlichen Eigensicherung erfüllt sind, er also den Leistungsbezug nicht zu vertreten hat. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die für die Beurteilung der Frage, ob der Leistungsbezug zu vertreten ist, heranzuziehenden Tatsachen regelmäßig aus der Sphäre des Einbürgerungsbewerbers stammen (vgl. auch hierzu mit zahlreichen Nachweisen VG Aachen, Urteil vom 11.12.2008 - 8 K 1274/06 -, a.a.O.).

Generell gilt, dass der Gesetzgeber den fiskalischen Interessen, die mit dem Erfordernis der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts verfolgt werden, in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG geringeres Gewicht beigemessen hat, als dies im Aufenthaltsrecht der Fall ist (vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 19.02.2009 - 5 C 22.08 -, a.a.O.; Berlit in GK-StAR, § 10 StAG Rdnr. 239).

Im Weiteren kommt dem Begriff des Vertretenmüssens neben dem quantitativen Element der prägenden Bedeutung des Verhaltens des Ausländers für einen späteren Leistungsbezug auch ein qualitativ-zeitliches Moment zu. Ausgehend von dem Anliegen des Gesetzgebers, Personen mit langjährigem (nämlich achtjährigem) rechtmäßigem Inlandsaufenthalt einen Anspruch auf Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit einzuräumen, hat der Einbürgerungsbewerber für ein ihm zurechenbares und für aktuelle Sozialhilfeleistungen mitursächliches Verhalten nach Ablauf einer Frist von acht Jahren nicht mehr einzustehen (vgl. auch insoweit BVerwG, Urteil vom 19.02.2009 - 5 C 22.08 -, a.a.O.).

Die Zielsetzung des Gesetzgebers, nämlich einer Zuwanderung in die Sozialsysteme entgegenzuwirken, wird regelmäßig bereits dadurch gefördert, dass bei zurechenbar unzureichender wirtschaftlicher Integration die erforderliche Voraufenthaltszeit eines achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalts oder der für den Einbürgerungsanspruch erforderliche Aufenthaltsstatus nicht erreicht werden kann, weil regelmäßig bereits das Aufenthaltsrecht einen gesicherten Lebensunterhalt verlangt. Kann oder soll indes aufenthaltsrechtlich diesem Umstand nicht mehr Rechnung getragen werden, verliert auch für das Staatsangehörigkeitsrecht der Gesichtspunkt an Gewicht, dass einer Zuwanderung in die Sozialsysteme vorgebeugt werden soll. Bei einem für den Einbürgerungsanspruch hinreichend verfestigten Aufenthaltsstatus ist der Bezug der Sozialhilfeleistung vielmehr unabhängig von der Staatsangehörigkeit (vgl. Urteil der Kammer vom 27.11.2011 - 2 K 42/10 - unter Hinweis auf VG Minden, Urteil vom 19.01.2011 - 11 K 58/10 -, dokumentiert bei juris, und BVerwG, Urteil vom 19.02.2009 - 5 C 22.08 -, a.a.O.).

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II zu vertreten.

Ausweislich des Akteninhalts weist der Kläger zwar objektiv vermittlungshemmende Merkmale auf, die seinen Zugang zum Arbeitsmarkt zumindest erschweren. So geht aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen u.a. der Klinik A-Stadt hervor, dass der Kläger bereits im Jahr 1996 einen Herzinfarkt erlitten hat und seitdem an fortdauernden gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die regelmäßig stationäre Krankenhausaufenthalte erforderlich machen. [...] Auch wenn hiermit keinesfalls bestätigt wird, dass der Kläger überhaupt keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen kann, werden im Hinblick auf dessen Herzleistungsschwäche doch erhebliche Einschränkungen gemacht. Berücksichtigt man zudem den niedrigen Bildungsstand des Klägers, ist angesichts der immer noch angespannten Arbeitsmarktlage ohne weiteres ersichtlich, dass die Arbeitsmöglichkeiten für den Kläger auf dem freien Arbeitsmarkt nicht allzu zahlreich sein dürften.

Gleichwohl entlastet dies den Kläger nicht davon, sich hinreichend intensiv um eine Beschäftigung zu bemühen. Daran fehlt es indes im vorliegenden Fall, wie sich insbesondere in der mündlichen Verhandlung herausgestellt hat. Anders als in seinen schriftlichen Äußerungen hat der Kläger hier mehrmals betont, er könne nach wie vor "arbeiten für Zwei", insbesondere auch schwere Lasten heben oder seinen erlernten Beruf als Maler ausüben, und wolle dies auch. Er sei bereit, jegliche Tätigkeit zu übernehmen, wenn man ihn nur lasse. Auf gezielte Nachfrage des Gerichts ist es ihm dann jedoch nicht gelungen, entsprechende Eigenbemühungen nachzuweisen. [...] Diese Bemühungen des Klägers um Arbeit reichen - ungeachtet ihrer Glaubhaftigkeit - nicht aus, um ein Nichtvertretenmüssen des fortdauernden Leistungsbezuges annehmen zu können. Soweit sich der Kläger - wie in der mündlichen Verhandlung dargestellt - trotz der ihm attestierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen individuell leistungsfähig fühlt, darf er nicht untätig bleiben, sondern muss alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine für ihn geeignete Beschäftigung zu finden. Hierzu gehört auch, dass er sich erfolglose Bewerbungen schriftlich bescheinigen lässt, um seine Eigenbemühungen gegenüber der Arbeitsverwaltung und gegenüber dem Beklagten nachweisen zu können. All dies hat der Kläger im vorliegenden Fall versäumt.

Berücksichtigt man zusätzlich, dass der Kläger das erfolgreiche Ablegen eines Deutschtests bei der Volkshochschule im Juni 2008 gegenüber der Arbeitsverwaltung verschwiegen und diese noch im Jahr 2009 in dem Glauben gelassen hat, er sei Analphabet - vgl. die in den Verwaltungsunterlagen befindlichen Stellungnahmen der ARGE A-Stadt vom Mai 2009 und vom September 2009 -, und darüber hinaus auch nicht regelmäßig dort vorgesprochen hat - vgl. die am 02.01.2012 bei Gericht eingegangene Stellungnahme, wonach der Kläger zuletzt am 22.07.2011 im Beratungsgespräch beim Jobcenter A-Stadt gewesen sei und seitdem nicht mehr vorgesprochen habe -, liegt ein objektives Fehlverhalten des Klägers vor, welches auch unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der dadurch bedingten verminderten Chancen auf dem Arbeitsmarkt für den aktuell fortdauernden Leistungsbezug maßgeblich bzw. prägend ist.

Nach alledem kommt eine Einbürgerung des Klägers nach Maßgabe des § 10 StAG wegen Nichterfüllung der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG nicht in Betracht. [...]