VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 07.12.2011 - M 23 K 11.30139 - asyl.net: M19538
https://www.asyl.net/rsdb/M19538
Leitsatz:

1. Droht einer jungen Frau aus Afghanistan im Zeitpunkt ihrer Ausreise die Zwangsheirat und damit eine allein an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung, besteht ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz gem. § 60 Abs. 1 AufenthG.

2. Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten.

3. Bei Zweifeln an der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers beim Bundesamt ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Mitarbeiter, der die Anhörung durchgeführt, nicht die Entscheidung getroffen hat. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung nicht verfahrensfehlerfrei gewonnen wurde.

Schlagwörter: Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Frauen, interne Fluchtalternative, alleinstehende Frauen, Zwangsehe, sexuelle Selbstbestimmung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

[...]

Der Klägerin drohte nach Überzeugung des Gerichts im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Afghanistan unmittelbar eine Zwangsheirat und damit eine allein an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Buchst. c AufenthG. Eine Zwangsheirat liegt vor, wenn eine Frau gegen ihren erklärten Willen verheiratet und sie mit Druck oder Drohungen dazu gezwungen werden soll. Eine Zwangsheirat beeinträchtigt die betroffene Frau in ihrem Recht auf individuelle und selbstbestimmte Lebensführung und in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert die Frau dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe als reines Objekt der Befriedigung oder zu Fortpflanzungszwecken den sexuellen Trieben des auserwählten Ehemanns aus. Dabei handelt es sich bei den mit einer aufgenötigten Eheschließung einhergehenden Rechtsverletzungen, die insbesondere auch die Anwendung physischer und psychischer Gewalt mit einschließen, um eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG. Zudem verstößt eine Zwangsheirat gegen Art. 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution 217 A (III) der UN-Generalversammlung vom 10. Dezember 1948), wonach eine Ehe nur bei freier und uneingeschränkter Willenseignung der künftigen Ehegatten geschlossen werden darf (VG Stuttgart vom 14.3.2011 NVwZ-RR 2011, 501; vgl hierzu auch VG München vom 20. Juni 2007 Az.: M 24 K 07.50265 - juris; VG Köln vom 5.10.2010 Az.: 14 K 7186/09.A - juris - m.w.N.; VG des Saarlands vom 24.11.2010 Az.: 6 K 90/10 - juris - m.w.N.; VG Augsburg vom 21.1.2011 Az.: Au 6 K 10.30586 und vom 16.6.2011 Az.: Au 6 K 11.30092 - beide juris: VG Minden vom 17.8.2011 Az.: 3 K 740/10.A m.w.N.). Diesbezüglich kommt es daher auch nicht entscheidungserheblich darauf an, ob die Klägerin bereits während der Verlobungszeit vergewaltigt wurde. Auch ist es insoweit unerheblich, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch minderjährig war. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da die Klägerin nach ihren eigenen Angaben zum Zeitpunkt der Befragung durch die Bundespolizei im August 2009 bereits 16 Jahre alt war. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.7.1984, DVBl 1985, 244) lässt sich auf diesen Fall nicht unmittelbar übertragen, da im Falle der Klägerin das Geburtsjahr nicht bekannt ist.

Die erforderliche Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund liegt im Fall einer drohenden Zwangsheirat unzweifelhaft vor. Die der Klägerin in Afghanistan drohende geschlechtsspezifische Verfolgung ging von ihren Eltern und dem Verlobten und damit von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen (vgl. BVerwG vom 18.7.2006 BVerwGE 126, 243).

Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn die Klägerin Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. Art. 7 Abs. 2 Richtlinie 2004/83/EG).

Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans stärken die Rechte der Frau. Allerdings hat dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit. Frauen, die sich gegen Verletzungen ihrer Rechte wehren, sehen sich Vertretern des Staates gegenüber, die häufig nicht in der Lage oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt sind, diese Rechte zu schützen (Bundesamt - Informationszentrum für Asyl und Migration -, geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 f.). Nach dem Lagebericht war die Situation der Frauen bereits vor dem Taliban-Regime durch sehr strenge Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. Während Frauenrechte in der Verfassung und teilweise im staatlichen Recht hätten gestärkt werden können, liege deren Verwirklichung für den größten Teil der afghanischen Frauen noch in weiter Ferne. Eine Verteidigung ihrer Rechte sei in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt werde und in dem kaum qualifizierte Anwältinnen und Anwälte zur Verfügung stünden, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen. Viele Frauen seien wegen sogenannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versucht hätten. In der Theorie werde die Situation der Frauen in Afghanistan durch die Verabschiedung des "Gesetzes zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierungen gegen Frauen" verbessert. Es enthalte zahlreiche strafbewehrte Bestimmungen und habe zum Ziel, Gewalt gegen Frauen in aller Form zu bekämpfen und zur Schaffung des Bewusstseins von der Würde und den Rechten der Frau beizutragen. Von einer effektiven Umsetzung des Gesetzes seien die Behörden, die es nach einer UNAMA-Studie von Dezember 2010 zum Teil gar nicht kennen würden, weit entfernt (Lagebericht, S. 23 f.). Auch UNHCR weist darauf hin, dass Menschenrechtsbeobachter auf die großen Herausforderungen im Hinblick auf die Umsetzung des neuen Gesetzes aufmerksam machen würden, welche noch bewältigt werden müssten und die nach wie vor Anlass zu großer Sorge geben würden (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7). Der afghanischen Regierung und der internationalen Staatengemeinschaft ist es nicht gelungen, der afghanischen Bevölkerung Zugang zu gerechten (Gerichts-)Verfahren zu verschaffen. Rund 80 Prozent der Fälle werden von traditionellen Gerichten behandelt. Dazu gehören Stammesräte, aber auch Taliban-Gerichte, denen die afghanische Bevölkerung mehr Vertrauen entgegenbringt als den staatlichen Gerichten. Eine Studie der "Afghanistan Research and Evaluation Unit" (AREU) vom Dezember 2009 hat ergeben, dass Frauen zu gemeindebasierten Schlichtungsstellen eher Zugang haben als zu staatlichen Justizeinrichtungen. Sie sind jedoch stark paternalistisch geprägt, was sich für Frauen als Nachteil erweist (Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., S. 11). Die informellen Stammesgerichte, die parallel zum offiziellen Justizsystem existieren, verstoßen häufig gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Die Mehrheit der Frauen hat zudem kaum Zugang zu Gerichten und juristischer Unterstützung, weil sie die Fahrtkosten und Gerichtsgebühren nicht aufbringen können. Selbst wenn es ihnen gelingt, diese Hindernisse zu überwinden, hält sie häufig die Furcht vor sozialer Stigmatisierung, der weit verbreiteten Korruption im Justizwesen und möglicher Missbrauch durch Polizeibeamte davon ab, Schutz bei Behörden zu suchen. Um Frauen die Verfolgung ihrer Rechte zu erleichtern, wurden in Polizeidienststellen sogenannte Family Response Units (FRUs) geschaffen. Deren Aufgabe ist es, Fälle von interfamiliärer Gewalt einschließlich sexueller Gewalt sowie von Zwangs- und Kinderverheiratungen aufzunehmen und zu registrieren. Den FRUs sollen nur weibliche Polizeibeamte angehören. Die FRUs leiden jedoch u.a. an einem Mangel an weiblichen Polizeibeamten bzw. deren ungenügender Ausbildung (Bundesamt - Informationszentrum Asyl und Migration - a.a.O., S. 26). Gegenwärtig ist nicht bekannt, wie viel dieser Einheiten existieren. Nach alledem ist davon auszugehen, dass in Afghanistan kein wirksamer staatlicher Schutz vor einer drohenden Zwangsheirat existiert, zu dem die Klägerin Zugang (gehabt) hätte.

Die Klägerin kommt im Bezug auf die anzustellende Verfolgungsprognose die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG zu Gute, da sie von der Zwangsheirat unmittelbar bedroht war. Die demnach bestehende Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht ist, ist im Fall der Klägerin auch nicht widerlegt. Stichhaltige Gründe, die objektiv gegen die Vermutung der fortwirkenden Verfolgungsfurcht sprechen würden, sind nicht erkennbar. Letztlich hat sich die Verfolgungsfurcht der Klägerin im Hinblick auf ihre Flucht in nachvollziehbarer Weise noch gesteigert, da sie nun - wie sie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat - befürchtet, dass ihr Vater sie im Falle einer Rückkehr töten würde. Sie hat diese Furcht damit begründet, dass sie ihren Vater betrogen habe, sie habe das Land mit einem Mann verlassen, den ihr Vater nicht gewollt habe und sie habe nicht den Mann geheiratet, den ihr Vater für sie vorgesehen habe.

Für die Klägerin besteht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 letzter Halbsatz AufenthG, Art. 8 Richtlinie 2004/83/EG. Fraglich ist bereits, ob überhaupt festgestellt werden kann, dass bei der Klägerin in einem Landesteil keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. Auch insoweit kommt ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG zugute. Unabhängig hiervon könnte es von der Klägerin als alleinstehender Frau nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich - losgelöst von ihrem Familienverband in Kabul - ohne reale Möglichkeit einer ausreichenden Existenzsicherung in einem anderen Landesteil niederlässt. Hinzu kommt, dass die Klägerin die erforderliche Krankenbehandlung dort voraussichtlich nicht erhalten könnte, wobei nach der prognostischen Einschätzung der behandelnden Psychologischen Psychotherapeutin bei einer Zwangsrückkehr in das Heimatland mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer erheblichen Verschlechterung des Krankheitsbilds zu rechnen ist, eingeschlossen das Risiko autoaggressiver Handlungen mit tödlichem Ausgang.

Die Lebensbedingungen sind landesweit schlecht. Das Risiko des Einzelnen, zu einem Opfer von Gewalt oder einer Menschenrechtsverletzung zu werden, ist überall - wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung - gegeben. Ob eine Person sich einer möglichen Gefährdung durch ein Ausweichen im Land entziehen kann, hängt maßgeblich von dem Grad ihrer sozialen Vernetzung sowie von der Verwurzelung in Familienverband oder Ethnie ab (Lagebericht, S. 26). Die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft bilden weiterhin den vorwiegenden Schutz- und Bewältigungsmechanismus, insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen die Infrastruktur nicht so entwickelt ist. Afghanen sind auf diese Strukturen und Verbindungen zum Zwecke der Sicherheit und des wirtschaftlichen Überlebens, einschließlich des Zugangs zu einer Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen. Da der von den Familien und Stämmen gewährte Schutz auf jene Gebiete begrenzt ist, in denen familiäre oder gemeinschaftliche Verbindungen bestehen, werden Afghanen, insbesondere alleinstehende Frauen und Kinder sowie weibliche Familienvorstände ohne männlichen Schutz nicht in der Lage sein, in Gebieten ohne soziale Unterstützungsnetze einschließlich der städtischen Gebiete, ein normales Leben ohne unangemessene Härte führen zu können (UNHCR-Richtlinien a.a.O., S. 14).

Für eine rückkehrende Person ist ein starkes Familien-, Sozial- oder Stammesnetz von grundlegender Bedeutung. Ohne dieses kann eine Person in der heutigen Situation nicht überleben (Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., S. 20). Die Beklagte geht dabei offenbar selbst davon aus, dass Personen, die - wie alleinstehende Frauen und alleinstehende Mütter mit Kindern - aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit erhöhten Risiken ausgesetzt sind, generell nicht auf internen Schutz verwiesen werden können (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration -, Afghanistan; Erkenntnisse und Ergebnisse eines Expertenhearings vom 29.4.2010, S. 16). Dies gilt auch hinsichtlich der Erreichbarkeit des Gebiets einer internen Schutzmöglichkeit. Auch der Zugang zu psycho-sozialer Traumabehandlung ist in Afghanistan sehr limitiert bis nicht vorhanden. Auch wenn sich der größte Teil der wenigen Institutionen, die eine Behandlung anbieten, in Kabul befindet, ist das keine Gewähr, dass die Patienten Zugang erhalten. Ohne die Unterstützung der Familie ist die Behandlung nicht möglich (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Alexandra Geiser, "Behandlung von Trauma in Kabul", 11. März 2009. S. 5 f.). [...]