OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.03.2012 - 14 B 1515/11.A - asyl.net: M19555
https://www.asyl.net/rsdb/M19555
Leitsatz:

Ausnahmsweise ist einer in Bulgarien als Flüchtling anerkannten Syrerin einstweiliger Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Bulgarien zu gewähren, wenn ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund ihrer psychischen Erkrankung in Betracht kommt.

Schlagwörter: Syrien, Bulgarien, Flüchtlingsanerkennung, psychische Erkrankung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 7 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig und auch begründet.

Die Antragstellerin verfolgt mit ihren Anträgen,

1. die Beschlüsse des VG Düsseldorf vom 25.02_2011 - 21 L 342/11.A - und des beschließenden Senats vom 11. Oktober 2011 - 14 B 1011/11 A - gemäß § 80 Abs. 7 VwGO dahin abzuändern, dass die aufschiebende Wirkung der Klage vom 24. Februar 2011 angeordnet wird;

2. hilfsweise den Beschluss des beschließenden Senats vom 11. Oktober 2011 - 14 B 1011/11.A - analog § 80 Abs. 7 VwGO abzuändern und der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung der Antragstellerin nach Bulgarien bis zu einer Entscheidung im Berufungsverfahren 14 A 1943/11.A vorläufig zu untersagen;

3. äußerst hilfsweise im Wege einstweiliger Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung der Antragstellerin nach Bulgarien vorläufig auszusetzen und - soweit bereits eine Abschiebungsanordnung erlassen und der zuständigen Ausländerbehörde übergeben wurde - der Antragsgegnerin aufzugeben, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung der Antragstellerin nach Bulgarien bis zu einer Entscheidung im Berufungsverfahren 14 A 1943/11.A nicht durchgeführt werden darf,

die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Abänderung des diesen ablehnenden Beschlusses des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. Februar 2011 - 21 L 342/11.A - gegen den Vollzug der Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 3. Februar 2011, mit dem die gestellten Asylanträge als gemäß § 27a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) unzulässig verworfen wurden und nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in den nach Auffassung der Antragsgegnerin für die Bearbeitung der Asylanträge zuständigen Staat Bulgarien angeordnet wurde. Weiter richtet sich der Antrag gegen den Beschluss des Senats vom 11. Oktober 2011 - 14 B 1011/11.A -, mit dem bereits ein entsprechender Antrag abgelehnt worden ist.

Die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Februar 2011 ist trotz der erhobenen Klage sofort vollziehbar (Art. 19 Abs. 2 Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003). Grundsätzlich darf in Verfahren der vorliegenden Art kein verwaltungsgerichtlicher einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden. Nach § 34a Abs. 2 AsylVfG darf die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausgesetzt werden. Der Gesetzgeber hat damit ausdrücklich angeordnet, dass in den Fällen, in denen als Vorfrage der eigentlichen Asylentscheidung darum gestritten wird, welcher Mitgliedstaat nach europäischem Recht für die Bearbeitung zuständig ist, die Abschiebung in den nach Auffassung der Behörde zuständigen Staat nicht durch verwaltungsgerichtliche Entscheidung gehindert werden darf. Diese Rechtsvorschrift ist - innerhalb bestimmter Grenzen - gültig (vgl. im Einzelnen OVG NRW, Beschluss vom 11. Oktober 2011 - 14 B 1011/11.A - m.w.N.).

Nur in Ausnahmefällen ist es denkbar, dass trotz des gesetzlichen Ausschlusses einstweiligen Rechtsschutzes dieser dennoch zulässig ist, nämlich wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass der Asylbewerber von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49 (99)).

Das gilt - neben dem für Bulgarien nicht gegebenen Fall, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden - dann, wenn aus Gründen des Einzelfalls, der vom Normgeber naturgemäß nicht berücksichtigt werden kann, für eine bestimmte Person ein Abschiebungshindernis besteht (vgl. Schaeffer, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattsammlung (Stand: Januar 2012), § 34a AsylVfG Rn.15; Funke-Kaiser, in: GK zum AsylVfG, Loseblattsammlung (Stand: März 2012), § 34a Rn. 26, 88, 92.

Hier kommt ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Betracht. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorzunehmenden Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der gesetzlich vorgesehenen sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordung einerseits und dem privaten Suspensivinteresse andererseits überwiegt hier das letztere. Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin im Falle ihrer Abschiebung eine erhebliche Gesundheitsgefährdung in Form einer wesentlichen Verschlechterung ihrer psychischen Erkrankung droht.

Die - möglicherweise durch Gewalteinwirkung auf den Schädel durch syrische Sicherheitskräfte - ausgelöste Erkrankung der Antragstellerin ergibt sich einerseits aus dem konsistenten Vorbringen der Antragstellerin, aber auch des Ehemannes im Verwaltungsverfahren, in dem als Grund für das Verlassen des Irak nach der Flucht aus Syrien stets Kopfschmerzen der Antragstellerin angegeben wurden. Auch das Verlassen Bulgariens trotz Anerkennung als Asylberechtigte durch die bulgarischen Behörden hat der Ehemann der Antragstellerin in der verwaltungsgerichtlichen Anhörung mit deren Erkrankung und fehlender medikamentöser Behandlung begründet. Die Erkrankung wird durch vielfache ärztliche und psychotherapeutische Atteste im gerichtlichen Verfahren gestützt. [...]

Somit ist eine psychische Erkrankung der Antragstellerin und eine Gefahr der Verschlechterung des Zustands im Falle ihrer Abschiebung nach Bulgarien auf Grund der dort erlebten Vorfälle zur Überzeugung des Senats überwiegend wahrscheinlich. Allerdings begründet nicht jede Gesundheitsverschlechterung ein Abschiebungshindernis. Das Gesetz erfordert eine erhebliche Leibes- oder Lebensgefahr und damit eine gravierende Gesundheitsbeeinträchtigung (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattsammlung (Stand: Januar 2012), § 60 AufenthG Rn. 164).

Eine Verschlechterung der Gemütslage im Sinne einer Vertiefung der Depression ist nicht ohne Weiteres eine gravierende Leibesgefahr. Auch wird dem Hauptsacheverfahren die Prüfung überlassen bleiben, ob eine angemessene Behandlung der Erkrankung in Bulgarien möglich ist (vgl. zur Bedeutung der Behandelbarkeit einer Krankheit im Zielstaat für den Abschiebungsschutz BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463).

Soweit von den Ärzten die Gefahr einer Selbsttötung im Falle der Abschiebung nach Bulgarien befürchtet wird, kann im Hinblick auf den allein von der Antragstellerin dazu nötigen Willensentschluss und der deshalb kaum hinlänglich gewissen Prognose der Eintrittswahrscheinlichkeit nicht ohne Weiteres die hinreichende Konkretheit der attestierten Gefahr festgestellt werden (vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2004 - 13 A 11 40/04.A -, NRWE Rn. 68 ff.).

Auch diese Prüfung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Da die vorgenannten ärztlichen Erkenntnisse nach dem Beschluss des Senats vom 11. Oktober 2011 erlangt wurden, konnte die Antragstellerin die Abänderung des genannten Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO beantragen. Unabhängig davon macht der Senat auch von seiner Abänderungsbefugnis nach Satz 1 der Vorschrift Gebrauch. [...]