VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 06.03.2012 - 8 A 1743/11.Z.A - asyl.net: M19567
https://www.asyl.net/rsdb/M19567
Leitsatz:

Die Nichteinhaltung bundesverwaltungsgerichtlicher Vorgaben zu Art und Weise der Tatsachenermittlung

und Tatsachenwürdigung stellt keine Divergenz gem. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG dar.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Tatsachenermittlung, Tatsachenwürdigung, Paktia, Afghanistan, Zwangsrekrutierung, Divergenzrüge
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2, AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4
Auszüge:

[...]

Der innerhalb der Monatsfrist gemäß § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AsylVfG am 19. August 2011 per Telefax beim Verwaltungsgericht eingegangene Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das ihr am 21. Juli 2011 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 11. Juli 2011 ist abzulehnen.

Der in dem Zulassungsantragsschreiben vom 19. August 2011 zunächst geltend gemachte Zulassungsgrund der Abweichung des angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Urteils von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ist nicht gegeben.

Zur hinreichenden, den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG entsprechenden Darlegung einer Divergenz des angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Urteils zu einer Entscheidung des in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG aufgeführten Bundesverwaltungsgerichts bedarf es der Wiedergabe eines inhaltlich bestimmten, in der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung aufgestellten tragenden abstrakten Rechtssatzes, mit dem dieses von einem in der angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz abgewichen ist. Diese Abweichung ist in der Begründung des Zulassungsantrags durch eine Gegenüberstellung beider abstrakter Rechtssätze im Einzelnen darzulegen (vgl. u.a. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261/97 - NJW 1997 S. 3328 = juris). Auch wenn in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ein solcher Rechtssatz nicht ausdrücklich ausgesprochen worden ist, ist dieser aus den Gründen herauszuarbeiten und im Zulassungsantrag genau zu formulieren.

Eine entsprechende Herausarbeitung eines vom Verwaltungsgericht aufgestellten oder seiner Entscheidung erkennbar zugrunde gelegten abstrakten Rechtssatzes zur Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und eine Gegenüberstellung mit einem ebensolchen abstrakten Rechtssatz in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 - 10 C 4/09 - lässt sich aber der Zulassungsantragsbegründung nicht entnehmen. Diese stellt vielmehr auf den Seiten 5 und 6 der Antragsbegründung darauf ab, dass "die Feststellungen des VG nicht (genügen), warum gerade der Kläger aufgrund dieses - unterstellten - Konfliktes in eine Gefahr für Leib und Leben, also eine individuelle erhebliche Gefahr, geraten solle", bzw. dass "den vorgenannten Anforderungen an die Feststellung des Niveaus willkürlicher Gewalt bzw. der Gefahrendichte… das Urteil des VG nicht (genügt)". Die Beklagte rügt dann zur näheren Begründung lediglich eine den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht gerecht werdende Sachverhaltsaufklärung und -würdigung; eine unrichtige Rechtsanwendung stellt aber keine Divergenz im Sinne des Zulassungsgrundes des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O.).

Der Senat hat schon in seinem rechtskräftigen Urteil vom 25. August 2011 - 8 A 1659/10.A - (juris Rdnr. 69) ausgeführt, dass die in dem - vom Beklagten hier herangezogenen - zurückverweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 (a.a.O. juris Rdnr. 33) aufgestellten Anforderungen an die Vorgehensweise bei der Feststellung eines den bewaffneten Konflikt kennzeichnenden hohen Niveaus willkürlicher Gewalt bzw. einer hohen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung … Aufklärungs- und Bewertungsanweisungen (sind,) die (allein) dem Tatrichter obliegende Sachverhaltsermittlung und Sachverhalts- sowie Beweiswürdigung betreffen“. Die Nichteinhaltung bundesverwaltungsgerichtlicher Vorgaben zu Art und Weise der Tatsachenermittlung und der Tatsachenwürdigung stellt aber keine Divergenz gem. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG dar.

Die Aufstellung extrem hoher, angesichts des nur beschränkt zugänglichen und wenig zuverlässigen Zahlenmaterials praktisch kaum umsetzbarer und zu einer verfälschten Einschätzung der tatsächlichen Gefährdungslage führender Anforderungen (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 25. August 2011 a.a.O. juris Rdnrn. 70 ff. ) rechtfertigt es nicht, eine dem nicht genügende Sachverhaltsermittlung und -würdigung als Abweichung in einer Rechtsfrage anzusehen. Eine Divergenzzulassung wegen einer Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts dient aber nur der bundesweiten Rechtsvereinheitlichung, nicht aber - und zwar auch nicht in Asylverfahren - der Angleichung unterschiedlicher (ober)verwaltungsgerichtlicher Tatsachenfeststellungen.

Die danach letztlich vom Beklagten gerügte unzureichende Tatsachenermittlung und -würdigung des Verwaltungsgerichts mag zwar geeignet sein, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zu begründen, einen dem § 124 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 VwGO entsprechenden Berufungszulassungsgrund sieht der hier maßgebliche § 78 Abs. 3 AsylVfG im Interesse der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration im Asylverfahren aber gerade nicht vor; hier soll es nach dem gesetzgeberischen Willen grundsätzlich bei der Tatsachenfeststellung der Verwaltungsgerichte sein Bewenden haben.

Eine grundsätzlich klärungsbedürftige und klärungsfähige Tatsachenfrage in Bezug auf eine individuelle Bedrohung infolge eines bewaffneten Konflikts in der Provinz Paktia/Afghanistan hat der Beklagte aber nicht aufgeworfen.

Entgegen der auf Seite 6 seiner Zulassungsantragsbegründung vertretenen Ansicht wäre die von ihm behauptete Divergenz auch nicht entscheidungserheblich, denn die Einhaltung der Vorgaben des von ihm herangezogenen bundesverwaltungsgerichtlichen Urteils würden in diesem Fall zu keinem von der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen.

Der Senat hat mit seinem Urteil vom 25. August 2011 (a.a.O.) für die auch im vorliegenden Verfahren maßgebliche Provinz Paktia im südöstlichen Grenzbereich Afghanistans und für einen ebenfalls in gleicher Weise - wie hier der aus demselben Bezirk Zadran stammenden Kläger - von einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban bedrohten männlichen Afghanen pashtunischer Volkszugehörigkeit im wehrfähigen Alter unter ausdrücklicher Zugrundelegung der vom Bundesverwaltungsgericht in dem zurückverweisenden Urteil vom 27. April 2010 (a.a.O.) vorgegebenen Anforderungen wegen der gefahrerhöhenden persönlichen Umstände des Klägers seine erhebliche individuelle Bedrohung als Zivilperson durch den in dieser Provinz stattfindenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt gem. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i. V. m. Art. 15c QRL bejaht; von der Einhaltung der bundesverwaltungsgerichtlichen Vorgaben durch dieses Senatsurteil ist offensichtlich auch der Beklagte ausgegangen, denn er hat dagegen keine auf eine auf Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gestützte Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, sondern das Senatsurteil - ebenso wie das zu Gunsten des zweieinhalb Jahre älteren Bruders des Klägers ebenfalls am 11. Juli 2011 - 7 K 244/11.F.A - ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main - rechtskräftig werden lassen.

Schließlich hat der Beklagte auch keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 4 AsylVfG hinreichend dargelegt. Die von ihm aufgeworfene Frage,

"ob jungen afghanischen Rückkehrern eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban droht", ist so pauschal nicht entscheidungserheblich, weil für die Frage einer individuellen Bedrohung i S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht auf Gesamtafghanistan, sondern in der Regel maßgeblich nur auf die Heimatregion des Klägers, also hier auf die Provinz Paktia, abzustellen ist (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 25. August 2011 a.a.O. juris Rdnr. 35 m. w. N.). Der Beklagte hat auch nicht im Sinne einer Klärungsbedürftigkeit dargelegt, warum diese hier getroffene verwaltungsgerichtliche Feststellung auf Grund vorliegender Erkenntnismittel oder anderer verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen zweifelhaft erscheint. Schließlich ist diese Frage auch nicht verallgemeinerungsfähig, sondern nur unter Berücksichtigung der jeweiligen zeitlichen, örtlichen und sonstigen Umstände des Einzelfalles zu beantworten. [...]