VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.02.2012 - 6 K 2534/11 - asyl.net: M19574
https://www.asyl.net/rsdb/M19574
Leitsatz:

1. Zur besondere Härte im Sinne von § 104a Abs. 3 S. 2 AufenthG.

2. § 104 a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist nicht erweiternd dahin auszulegen, dass die Vorschrift auch für ein volljähriges lediges Kind gilt, das in Deutschland geboren wurde. Für ein solches Kind trifft § 25a Abs. 1 AufenthG eine spezielle Regelung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: besondere Härte, volljähriges lediges Kind, Schutz des Privatlebens, Integrationsprognose, Roma, Kosovo
Normen: AufenthG § 104a Abs. 3 S. 2, AufenthG § 104a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 25a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Im Übrigen ist die Klage zulässig und hinsichtlich der Kläger zu 1 und 2 begründet. Diese Kläger haben einen Anspruch gegen die Beklagte auf Neubescheidung ihrer Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; die angefochtenen Bescheide waren aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen. Das Gericht konnte hingegen eine Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse von vornherein schon deshalb nicht aussprechen, weil es über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf (§ 88 VwGO). Die Klage der Klägerin zu 4 ist aber unbegründet.

Hinsichtlich der Klägerin zu 1 hat die Beklagte mit Recht ausgeführt, dass eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund von § 23 AufenthG in Verbindung mit dem Erlass des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 20.11.2006 nicht in Betracht kommt, weil ihr Ehemann wegen seiner Straftaten einen zwingenden Ausschlussgrund erfüllt.

Wegen dieser Straftaten gilt grundsätzlich auch der Ausschlussgrund des § 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.01.2011 - 1 C 22/09 -, juris). Jedoch liegt bei der Klägerin zu 1 der Ausnahmefall des § 104a Abs. 3 S. 2 AufenthG vor, so dass sie insoweit einen Anspruch auf Neubescheidung hat. Die Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG werden erfüllt; dies trifft nach dem Umzug der Kläger in die Drei-Zimmer-Wohnung ... in Stuttgart mit 45 qm auch im Hinblick auf ausreichenden Wohnraum zu (§ 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG). Bei der Klägerin zu 1 liegt auch eine besondere Härte im Sinne von § 104a Abs. 3 S. 2 AufenthG vor. Dies ist dann der Fall, wenn der Ausländer durch die Ablehnung des Bleiberechts signifikant anders und dadurch ungleich härter betroffen ist als andere Ausländer in einer vergleichbaren Lage. So verhält es sich bei der Klägerin zu 1. Sie ist im Alter von 16 Jahren nach Deutschland gekommen und lebt hier bereits seit 20 Jahren. Sie hat hier drei Kinder geboren, die noch nie im Kosovo waren und auch keine Beziehung zum Kosovo haben. Ferner ist sie von der Volkszugehörigkeit her Roma und wird in ihrem Heimatland schwerlich eine Existenzmöglichkeit finden, zumal sie nach dem glaubhaften Vortrag ihres Prozessbevollmächtigten keine Verwandten und auch keinen Besitz im Kosovo hat. Dagegen hat sie sich in Deutschland trotz ungünstiger Bedingungen eine Existenz geschaffen und fällt mit ihrer Familie den öffentlichen Kassen nicht mehr zur Last. Auch die Zukunftsprognose im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts ist günstig. Nicht erforderlich ist nach Auffassung des Gerichts, dass nur solche Umstände zu einer besonderen Härte führen, die auch ein dauerhaftes Abschiebungsverbot begründen würden (so aber Hailbronner, Ausländerrecht, § 104a AufenthG Rdnr. 44 und Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, § 104a AufenthG Rdnr. 64). Eine solche Einschränkung würde der humanitären Zielsetzung des § 104a AufenthG widersprechen, und das Erfordernis der besonderen Härte reicht auch ohne die Forderung nach dem Vorliegen eines dauerhaften Abschiebungsverbotes aus, um den Ausnahmecharakter der Vorschrift zu betonen und zu gewährleisten (wie hier: VG Berlin, Urteil vom 06.11.2008 -29 A 373.07 -, juris und Funke-Kaiser GK-AufenthG, § 104a AufenthG, Rdnr. 60).

Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG sind bei der Klägerin zu 1 aber nicht erfüllt. In Betracht kommt allein ein rechtliches Ausreisehindernis, nämlich das inlandsbezogene Abschiebungsverbot, das aus Art. 8 EMRK folgt. Der Schutzbereich des Rechtes auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK kann auch dann eröffnet sein, wenn der Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet seit seiner Einreise lediglich geduldet wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 -, InfAuslR 2011, 250 und juris). Eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kommt aber nur für solche Ausländer in Betracht, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit Deutschland verbunden sind, dass sie deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 a.a.O., m.w.N.). Diese strenge Voraussetzung erfüllt die Klägerin zu 1 aber nicht. Zwar hat sie sich ihrem Heimatland durchaus in gewissem Maße entfremdet. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sie damit schon einer deutschen Staatsangehörigen gleichsteht. Besondere Integrationsleistungen sind für sie weder vorgetragen noch für das Gericht aus den Akten ersichtlich.

Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 2 AufenthG kann der Klägerin zu 1 schon deshalb nicht erteilt werden, weil keines ihrer Kinder im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG besitzt.

Hinsichtlich des Klägers zu 2 kommt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AufenthG in Verbindung mit dem Erlass vom 20.11.2006 aus denselben Gründen nicht in Betracht wie bei seiner Mutter. Auch die Voraussetzungen des § 104a Abs. 2 S. 1 AufenthG liegen nicht sämtlich vor, weil diese Vorschrift bestimmt , dass der Betroffene minderjährig nach Deutschland eingereist sein muss, während der Kläger zu 2 in Deutschland geboren wurde. Es besteht auch kein rechtliches Bedürfnis, die Vorschrift in erweiternder Auslegung auf Ausländer, die in Deutschland geboren worden sind, auszudehnen, weil nunmehr § 25a AufenthG eine Regelung (auch) für solche Ausländer geschaffen hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen beim Kläger zu 2 vor, so dass er insoweit Anspruch auf Neubescheidung hat. Das ist hinsichtlich § 25a Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG unproblematisch; er hat in der mündlichen Verhandlung sein Abschlusszeugnis der Hauptschule mit Werkrealschule vom 23.07.2010 vorgelegt. Auch das Antragserfordernis des § 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 ist gewahrt. Zwar hat er den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zuletzt am 19.09.2007 und damit kurz vor Vollendung des 15. Lebensjahres gestellt. Zum damaligen Zeitpunkt gab es die Vorschrift des § 25a AufenthG jedoch noch nicht, und der Kläger zu 2 hat durch seinen Widerspruch gegen die Verfügung der Beklagten vom 27.10.2008 zu erkennen gegeben, dass er an dem Antrag festhält. Auch die Beklagte sieht offensichtlich kein Problem darin, dass der Antrag vor Vollendung des 15. Lebensjahres gestellt worden ist (vgl. ihren Schriftsatz vom 05.09.2011).

Es erscheint auch gewährleistet, dass der Kläger zu 2 sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Für die Auslegung dieses Teils der Vorschrift kann auf die Auslegung der gleich lautenden Bestimmung des § 104a Abs. 2 S. 1 AufenthG zurückgegriffen werden. Danach sind bei der Prüfung der positiven Integrationsprognose die Kriterien Dauer des Aufenthalts, Ausbildung, Schulbesuch, Sprachkenntnisse, gesamte Lebensumstände und Straffälligkeit heranzuziehen (vgl. Hailbronner, AuslR, § 104a AufenthG Rdnr. 36 m.w.N.). Außer der Straffälligkeit begründen alle diese Kriterien beim Kläger zu 2 eine gute Integrationsprognose, zumal er Arbeit hat. Allerdings wurde er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom Amtsgericht ... inzwischen am 30.1.2012 wegen Leistungserschleichung zu einer Geldstrafe von 300 EUR verurteilt (vgl. zum eingeleiteten Verfahren die Mitteilung der Polizeirevierstation ... vom 09.11.2011 an die Beklagte). Ohne dies bagatellisieren zu wollen, ist die Leistungserschleichung in dem vom Kläger zu 2 betriebenen Umfang aber kein Delikt, das die ansonsten positive Integrationsprognose erschüttern könnte.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG scheitert dagegen aus denselben Gründen wie bei der Klägerin zu 1.

Die Klägerin zu 4 kann aufgrund von § 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung erhalten. Die Ausnahmevorschrift des § 104a Abs. 3 S. 2 AufenthG kommt nur für Ehegatten in Betracht und damit nicht für die Klägerin zu 4. Auch aus § 25a AufenthG kann sie keine Rechte herleiten, weil sie erst 12 Jahre alt ist (vgl. § 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG). [...]