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EuGH, Urteil vom 24.04.2012 - C-571/10 - asyl.net: M19582
https://www.asyl.net/rsdb/M19582
Leitsatz:

Grundsätzlich darf ein im Sinne der Richtlinie 2003/109/EG langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger bei der Vergabe von Wohngeld nicht anders behandelt werden als ein Bürger des Mitgliedsstaates, der in derselben Provinz oder Region ansässig ist.

Schlagwörter: Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Ungleichbehandlung, Drittstaatsangehörige, Kernleistungen, Daueraufenthaltsrichtlinie, Daueraufenthaltsberechtigte, Sozialhilfe, Italien, Wohngeld, Rechtsstellung langfristig Aufenthaltsberechtigter
Normen: EUV Art. 6 Abs. 1, RL 2003/109/EG Art. 11 Abs. 4, GR-Charta Art. 34
Auszüge:

[...]

31 Herr Kamberaj ist albanischer Staatsangehöriger, der seit 1994 seinen Wohnsitz in der Autonomen Provinz Bozen hat und dort in einem festen Arbeitsverhältnis steht. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass er einen unbefristeten Aufenthaltstitel besitzt.

32 In den Jahren 1998–2008 bezog der Kläger des Ausgangsverfahrens Wohngeld nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. k des Landesgesetzes.

33 Mit Schreiben vom 22. März 2010 teilte IPES dem Kläger des Ausgangsverfahrens mit, dass sein Wohngeldantrag für das Jahr 2009 abgelehnt werde, da das mit dem Beschluss Nr. 1885/2009 festgesetzte Kontingent für Drittstaatsangehörige erschöpft sei.

34 Mit Klageschrift, die am 8. Oktober 2010 beim vorlegenden Gericht eingegangen ist, beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Tribunale di Bolzano, festzustellen, dass dieser Versagungsbescheid ein ihn diskriminierendes Verhalten der Beklagten des Ausgangsverfahrens darstelle. Er war der Auffassung, dass eine nationale Regelung wie das Landesgesetz u. a. gegen die Richtlinien 2000/43 und 2003/109 verstoße, da es langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige auf dem Gebiet des Wohngelds ungünstiger als Unionsbürger behandele.

35 Die Autonome Provinz Bozen führte in dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht aus, dass die proportionale Aufteilung der Mittel zwischen den in der Autonomen Provinz Bozen ansässigen Sprachgruppen erforderlich sei, um den sozialen Frieden zwischen Personen, die Sozialleistungen beantragten, zu wahren.

36 Das vorlegende Gericht legt dar, dass nach dem Landesgesetz die Wohnbevölkerung der Autonomen Provinz Bozen in zwei Gruppen unterteilt sei, nämlich in die Unionsbürger (Italiener und Nichtitaliener), die für den Zugang zum Wohngeld unterschiedslos die Zugehörigkeits- oder Angliederungserklärung für eine der drei Sprachgruppen abgegeben haben müssten, und die Drittstaatsangehörigen, die diese Erklärung nicht abgeben müssten.

37 Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass für das Jahr 2009, um den Gesamtbedarf der ersten Gruppe, also der Unionsbürger, gleichviel ob Italiener oder nicht, für den Zugang zu Mietwohnungen oder Wohnungseigentum zu befriedigen, Mittelzuweisungen in Höhe von insgesamt 90 812 321,57 Euro genehmigt worden seien, davon 21 546 197,57 Euro für Wohngeld und 69 266 124 Euro für Kauf, Bau und Wiedergewinnung von Wohnungen für den Grundwohnbedarf, und dass für die zweite Gruppe, bestehend aus den Drittstaatsangehörigen, insgesamt 11 604 595 Euro, davon 10 200 000 Euro für Wohngeld und 1 404 595 Euro für Kauf, Bau und Wiedergewinnung von Wohnungen für den Grundwohnbedarf genehmigt worden seien.

38 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das Tribunale di Bolzano dem Kläger des Ausgangsverfahrens vorsorglich das beantragte Wohngeld für die Monate Oktober 2009 bis Juni 2010 gewährt hat, und zwar einen Betrag von 453,62 Euro je Monat. [...]

59 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall eines Widerspruchs zwischen einer Regelung des nationalen Rechts und der EMRK es die in Art. 6 EUV enthaltene Verweisung auf die EMRK dem nationalen Gericht gebietet, die Bestimmungen der EMRK, hier Art. 14 EMRK und Art. 1 des Protokolls Nr. 12, unmittelbar anzuwenden und die mit der EMRK unvereinbare nationale Regelung unangewendet zu lassen, ohne dass zuvor die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Corte costituzionale vorgelegt wird.

60 Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.

61 Diese Bestimmung des EUV trägt der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs Rechnung, wonach die Grundrechte integraler Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze sind, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (vgl. z. B. Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine, C-521/09 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 112).

62 Art. 6 Abs. 3 EUV regelt indessen nicht das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer Regelung des nationalen Rechts zu ziehen hat.

63 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass es die in Art. 6 EUV enthaltene Verweisung auf die EMRK einem nationalen Gericht nicht gebietet, im Fall eines Widerspruchs zwischen einer Regelung des nationalen Rechts und der EMRK deren Bestimmungen unmittelbar anzuwenden und die mit der EMRK unvereinbare nationale Regelung unangewendet zu lassen.

Zur dritten Frage

64 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinien 2000/43 und 2003/109, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen oder regionalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige in Bezug auf die Gewährung von Wohngeld anders behandelt als Unionsbürger, gleichviel ob italienische Staatsangehörige oder nicht, die im Gebiet der Autonomen Provinz Bozen ansässig sind.

65 Aus den bereits in den Randnrn. 48 bis 50 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen fällt die vom Kläger des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Diskriminierung nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43.

66 In Bezug auf die Richtlinie 2003/109 ist vorab daran zu erinnern, dass in der mit ihr geschaffenen Regelung klar festgelegt ist, dass die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie einem besonderen Verfahren unterliegt und außerdem von der Erfüllung der in Kapitel II der Richtlinie angegebenen Voraussetzungen abhängt.

67 So sieht Art. 4 der Richtlinie 2003/109 vor, dass die Mitgliedstaaten die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vorbehalten, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben. Art. 5 der Richtlinie verlangt für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung den Nachweis, dass der Drittstaatsangehörige, der diese Rechtsstellung beantragt, über ausreichende Einkünfte sowie eine Krankenversicherung verfügt. Art. 7 der Richtlinie schließlich legt die für die Erlangung dieser Rechtsstellung geltenden verfahrensrechtlichen Voraussetzungen fest.

68 Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, so dass er aufgrund dieser Richtlinie die Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie beanspruchen kann.

69 Im vorliegenden Urteil ist zu prüfen, ob eine Aufteilung der für das Wohngeld bestimmten Mittel, wie sie im Ausgangsverfahren in Frage steht, mit dem in Art. 11 der Richtlinie 2003/109 niedergelegten Grundsatz der Gleichbehandlung in Einklang steht.

Zur Ungleichbehandlung und zur Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Sachverhalte

70 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in dem Sachverhalt, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, das Landesgesetz die für das Wohngeld bestimmten Mittel sowohl für die Unionsbürger, ob Italiener oder Nichtitaliener, als auch für die Drittstaatsangehörigen auf der Grundlage eines gewichteten Durchschnitts aufteilt, der anhand der zahlenmäßigen Stärke einer jeden Gruppe und des Bedarfs dieser Gruppen bestimmt wird.

71 Während allerdings für italienische Staatsangehörige und Unionsbürger, für die, wie aus den Randnrn. 26 bis 28 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der Erhalt von Wohngeld unterschiedslos von der Abgabe einer Erklärung der Zugehörigkeit zu einer der drei Sprachgruppen abhängt, für die beiden bei der Bestimmung des gewichteten Durchschnitts berücksichtigten Faktoren derselbe Koeffizient gilt, nämlich ein Koeffizient von 1, wurde für die Drittstaatsangehörigen gemäß dem Beschluss Nr. 1885 dem Faktor ihres zahlenmäßigen Bestandes ein Koeffizient von 5 und ihrem Bedarf ein Koeffizient von 1 zugewiesen.

72 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, unterlag somit ab dem Jahr 2009 die Bestimmung des Anteils der Mittel für Wohngeld, die an Unionsbürger einerseits und an Drittstaatsangehörige andererseits vergeben wurden, unterschiedlichen Berechnungsmethoden. Die Anwendung unterschiedlicher Koeffizienten hat eine Benachteiligung der aus Drittstaatsangehörigen bestehenden Gruppe zur Folge, da das für ihre Wohngeldanträge zur Verfügung stehende Budget geringer ist und somit schneller erschöpft sein kann als das den Unionsbürgern zugeteilte.

73 Es ist daher festzustellen, dass der Unterschied zwischen den Koeffizienten für die zahlenmäßige Stärke der Drittstaatsangehörigen einerseits und der zu den drei Sprachgruppen gehörenden Unionsbürger, ob Italiener oder Nichtitaliener, andererseits zu einer Ungleichbehandlung zwischen diesen beiden Kategorien von Leistungsempfängern führt.

74 In Bezug auf den Vergleich zwischen den Unionsbürgern, ob Italiener oder Nichtitaliener, und den Drittstaatsangehörigen macht die Autonome Provinz Bozen geltend, dass die Verwendung unterschiedlicher Mechanismen zur Bestimmung der zahlenmäßigen Stärke dieser beiden Gruppen oder des Bedarfs dieser Gruppen zeige, dass sie sich nicht in einer vergleichbaren Situation befänden.

75 Selbst wenn jedoch, wie die Autonome Provinz Bozen geltend macht, bei der Bearbeitung der Wohngeldanträge insbesondere von Drittstaatsangehörigen Schwierigkeiten statistischer oder verwaltungsmäßiger Art bestehen sollten, erklären diese nicht, warum die Situation dieser Drittstaatsangehörigen, wenn sie die von der Richtlinie 2003/109 gewährte Rechtsstellung erlangt haben, sowohl dem Verfahren als auch den Voraussetzungen, die diese Richtlinie vorsieht, entsprochen haben und nicht über ausreichende Einkünfte zur Deckung ihrer Wohnkosten verfügen, nicht mit der eines Unionsbürgers vergleichbar ist, der den gleichen wirtschaftlichen Bedarf hat.

Zur Ungleichbehandlung im Licht von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109

76 Zweitens ist zu prüfen, ob die damit festgestellte Ungleichbehandlung, was die Autonome Provinz Bozen bestreitet, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109, insbesondere ihres Art. 11 Abs. 1 Buchst. d, fällt, wonach langfristig Aufenthaltsberechtigte in Bezug auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinne des nationalen Rechts Anspruch auf Gleichbehandlung haben.

77 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es, wenn der Unionsgesetzgeber, wie in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, ausdrücklich auf das nationale Recht verweist, nicht Sache des Gerichtshofs ist, den betreffenden Begriffen eine autonome und einheitliche unionsrechtliche Definition zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 1984, Ekro, 327/82, Slg. 1984, 107, Randnr. 14). Eine solche Verweisung impliziert nämlich, dass der Unionsgesetzgeber die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede in der Definition und der genauen Tragweite der fraglichen Begriffe unberührt lassen wollte.

78 Das Fehlen einer autonomen und einheitlichen unionsrechtlichen Definition der Begriffe der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und des Sozialschutzes und die in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 enthaltene Verweisung auf das nationale Recht hinsichtlich dieser Begriffe bedeuten jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2003/109 bei der Anwendung des in diesem Artikel vorgesehenen Gleichbehandlungsgrundsatzes beeinträchtigen dürften.

79 Gemäß dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 steht diese im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere durch die Charta anerkannt wurden, der nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang zukommt wie den Verträgen. Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.

80 Folglich müssen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Maßnahmen der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und des Sozialschutzes, die in ihrem nationalen Recht vorgesehen sind und dem in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 niedergelegten Gleichbehandlungsgrundsatz unterliegen, die in der Charta gewährleisteten Rechte beachten und die in ihr normierten Grundsätze berücksichtigen, darunter insbesondere die in Art. 34 der Charta aufgeführten. Art. 34 Abs. 3 der Charta bestimmt, dass zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und der Armut die Union, und damit die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union, "das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten [anerkennt und achtet]".

81 Da sowohl in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 als auch in Art. 34 Abs. 3 der Charta auf das nationale Recht Bezug genommen wird, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels der Integration zu beurteilen, ob ein Wohngeld wie das im Landesgesetz vorgesehene – was die Autonome Provinz Bozen bestreitet – in eine der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannten Kategorien fällt.

Zu Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109

82 Da das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen könnte, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Wohngeld unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 fällt, ist drittens zu prüfen, ob die Autonome Provinz Bozen, wie sie geltend macht, berechtigt wäre, die Anwendung des in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 niedergelegten Grundsatzes der Gleichbehandlung gemäß Abs. 4 dieses Artikels zu beschränken.

83 Diese Bestimmung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Anwendung dieses Grundsatzes bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die Kernleistungen beschränken können. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 erlaubt dagegen keine Ausnahme von diesem Grundsatz in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne des nationalen Rechts.

84 Aus dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie geht hervor, dass der Begriff der Kernleistungen zumindest ein Mindesteinkommen sowie Unterstützung bei Krankheit, bei Schwangerschaft, bei Elternschaft und bei Langzeitpflege erfasst. Die Modalitäten der Gewährung dieser Leistungen sollten laut diesem Erwägungsgrund durch das nationale Recht bestimmt werden.

85 Zunächst ist festzustellen, dass die in diesem 13. Erwägungsgrund enthaltene Aufzählung, die den in Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 verwendeten Begriff der "Kernleistungen" veranschaulicht, nicht erschöpfend ist, wie die Verwendung des Wortes "zumindest" zeigt. Dass in diesem Erwägungsgrund nicht ausdrücklich auf Wohngeld Bezug genommen wird, bedeutet somit nicht, dass dieses keine der Kernleistungen darstellt, auf die der Grundsatz der Gleichbehandlung zwingend anzuwenden ist.

86 Ferner ist, da die Integration der dauerhaft in den Mitgliedstaaten ansässig gewordenen Drittstaatsangehörigen und ihr Recht auf Gleichbehandlung in den in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannten Bereichen die Grundregel bilden, die in Abs. 4 dieses Artikels vorgesehene Ausnahme eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2010, Chakroun, C-578/08, Slg. 2010, I-1839, Randnr. 43).

87 Insoweit ist hervorzuheben, dass eine Behörde, sei es auf nationaler, auf regionaler oder auf kommunaler Ebene, sich auf die in Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Ausnahme nur berufen darf, wenn die für die Durchführung dieser Richtlinie zuständigen Stellen des betreffenden Mitgliedstaats eindeutig zum Ausdruck gebracht haben, dass sie diese Ausnahme in Anspruch nehmen wollten.

88 Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht nicht hervor, dass die Italienische Republik ihre Absicht zum Ausdruck gebracht hätte, von der in Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung Gebrauch zu machen.

89 Schließlich ist festzustellen, dass die im 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 enthaltene Verweisung auf das nationale Recht nur die Modalitäten der Gewährung der fraglichen Leistungen betrifft, d. h. die Festlegung der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Leistungen und der Höhe dieser Leistungen sowie der entsprechenden Verfahren.

90 Die Bedeutung und die Tragweite des Begriffs "Kernleistungen" im Sinne des Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 sind demgemäß unter Berücksichtigung des Kontexts, in den sich dieser Artikel einfügt, und des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels zu ermitteln, das in der Integration der sich rechtmäßig und langfristig in den Mitgliedstaaten aufhaltenden Drittstaatsangehörigen besteht.

91 Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 ist dahin aufzufassen, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, die Gleichbehandlung, auf die die Inhaber der von der Richtlinie 2003/109 gewährten Rechtsstellung Anspruch haben, zu beschränken, ausgenommen diejenigen von den Behörden, sei es auf nationaler, auf regionaler oder auf kommunaler Ebene, gewährten Leistungen der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes, die dazu beitragen, es dem Einzelnen zu erlauben, seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen.

92 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Union gemäß Art. 34 der Charta das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung anerkennt und achtet, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen. Hieraus folgt, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zuschuss, soweit er den von diesem Artikel der Charta genannten Zweck erfüllt, im Unionsrecht nicht als ein solcher angesehen werden kann, der nicht zu den Kernleistungen im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 gehört. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die erforderlichen Feststellungen zu treffen, wobei der Zweck dieses Zuschusses, seine Höhe, die Voraussetzungen für seine Gewährung und seine Stellung im italienischen Sozialhilfesystem zu berücksichtigen sind.

93 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen oder regionalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Rahmen der Gewährung von Wohngeld einen Drittstaatsangehörigen, der die im Einklang mit dieser Richtlinie gewährte Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, bei der Aufteilung der für dieses Wohngeld bestimmten Mittel anders behandelt als Bürger des Mitgliedstaats, die in derselben Provinz oder Region ansässig sind, sofern dieses Wohngeld in eine der drei in dieser Bestimmung genannten Kategorien fällt und Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie keine Anwendung findet. [...]