VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 20.03.2012 - 2 K 194/10.A - asyl.net: M19616
https://www.asyl.net/rsdb/M19616
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen des Verdachts des Hochverrats aufgrund vermeintlicher Zusammenarbeit mit russischem Militär während des georgisch-russischen Krieges 2008.

Schlagwörter: Georgien, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Verdacht des Hochverrats, Verdacht, Hochverrat, russische Sprache, Russisch, Osseten, georgisch-russischer Krieg, Krieg, Spionage, Kollaboration
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG) und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 AsylVfG). [...]

Er ist unter dem Druck der unmittelbaren Gefahr politischer Verfolgung, mithin vorverfolgt aus Georgien ausgereist.

Das Gericht ist nach dem Ergebnis der informatorischen Anhörung des Klägers und der Vernehmung des Zeugen (unter Einbeziehung des Akteninhalts sowie der vorliegenden Erkenntnisse - insbesondere der ihm vorgelegten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 06. Februar 2012 - in die Würdigung) zu der hinreichend sicheren Überzeugung gelangt, dass der Kläger Georgien aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen hat. Auf Grund der glaubhaften lebendigen Sachverhaltsschilderung des Klägers und des hierbei gewonnenen Eindrucks seiner persönlichen Glaubwürdigkeit sowie mit Blick darauf, dass seine Sachverhaltsangaben vor dem Gericht unaufgelöste Widersprüche von Gewicht zu seinen Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt am 04. Dezember 2008 und zu den - auch nach dem von dem Gericht bei dessen Vernehmung gewonnenen Eindruck von seiner persönlichen Glaubwürdigkeit - glaubwürdigen Aussagen des genannten Zeugen nicht aufweisen, geht das Gericht davon aus, dass der Kern des Asylvorbringens des Klägers der Wahrheit entspricht.

Der - glaubhafte - Kern des Asylvorbringens des Klägers besteht auf folgendem sinngemäßen Vortrag:

Er habe - nachdem er kurz zuvor erst zu den georgischen Streitkräften einberufen worden, sodann in dem georgisch-russischen Krieg zum Einsatz gelangt und schließlich (nach Rückgabe seiner Waffen) von vorgesetzten georgischen Militärpersonen deaktiviert worden sei - am 11. August 2008 in seinem Heimatdorf mit Verwandten und Freunden in Russland mit dem Handy in russischer Sprache telefoniert. Mitbewohner des Heimatdorfes, die dies mitbekommen hätten, hätten ihn verdächtigt, er habe den zu diesem Zeitpunkt über dem Dorf aufgetauchten russischen Aufklärungsflugzeugen mit dem Handy Orientierung gegeben, und ihn deshalb angezeigt. Bald danach hätten ihn in Bobnevi Mitarbeiter des georgischen Geheimdienstes festgenommen und zur Bezirkspolizeiwache in Gori verbracht. Dort hätten Geheimdienstmitarbeiter ihn mehrfach misshandelt, um ihn zur Unterschrift unter ein Dokument zu zwingen, in dem er habe zugeben sollen, russische Ideen zu verbreiten und als Hochverräter per Telefon den russischen Fliegern Orientierung gegeben zu haben. Nach seiner Weigerung habe man ihn weiter misshandelt. Mit Hilfe eines ehemaligen Generalstaatsanwalts - eines Cousins seines Vaters - sei er schließlich aus der Haft freigekommen und dann aus Georgien geflüchtet.

Die in der von dem Auswärtigen Amt unter dem 06. Februar 2012 dem Gericht vorgelegten Stellungnahme angesprochenen Zweifel der deutschen Botschaft in Tiflis an der Plausibilität einzelner Punkte der - von dem Gericht dem Auswärtigen Amt zusammen mit dem Beweisbeschluss komprimiert sinngemäß wiedergegebenen - Sachverhaltsschilderung des Klägers sind im Ergebnis nach der Überzeugung des Gerichts nicht geeignet, durchgreifende Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Tatsachenvortrags des Klägers zu tragen. [...]

Die Angaben des Klägers rechtfertigen auch bei objektiver Betrachtung die Annahme ihm zur Zeit der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung.

Das Gericht geht nämlich davon aus, dass mit der vorgelegten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 06. Februar 2012 bei der gebotenen Würdigung folgendes überzeugend dargelegt ist: Vor dem Hintergrund starker nationalistischer Einstellungen auch in (Rest-)Georgien, die auch mit einseitigen pauschalen Schuldzuweisungen einhergingen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine allgemeine Gefährdung des Klägers im August 2008 bestand und dessen Behandlung in der - von ihm - geschilderten Weise erfolgte. Auch wenn dem Auswärtigen Amt und der deutschen Botschaft in Tiflis auch nach Erkundigungen in Tiflis und Gori konkrete derartige Einzelfälle nicht bekannt geworden seien und es diese in nennbarer Zahl nicht gegeben zu haben scheine, könnten während dieser Zeit Verdächtigungen der Spionage und der Kollaboration mit russischen Truppen sowie Denunziationen aus der Bevölkerung ebenso wie Festnahmen und Verhöre seitens georgischer Sicherheitskräfte nicht ausgeschlossen werden.

Ist mithin davon auszugehen, dass der Kläger unter dem Druck der unmittelbaren Gefahr politischer Verfolgung, wegen seiner unterstellten antigeorgischen Einstellung, mithin vorverfolgt aus Georgien ausgereist ist, so kann darüber hinaus auch keineswegs mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er bei einer Rückkehr in dieses Land Objekt gegen ihn gerichteter politischer Verfolgung wird.

Das ließe sich nämlich nur dann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen wäre, dass das voraussichtlich seitens der georgischen Sicherheitskräfte im Sommer 2008 gegen ihn eingeleitete und bis zu seiner Ausreise voraussichtlich keineswegs eingestellte Verfahren gegen ihn wegen des Verdachts eines Verrats der Positionen georgischer Truppen an die russische Seite inzwischen eingestellt worden wäre oder im Falle seiner Rückkehr nach Georgien kurzfristig zur Einstellung gelangen würde, weil die zugrundeliegenden Denunziationen seiner georgischen Nachbarn offenkundig aus der Luft gegriffen gewesen seien und das Regime nur "Sündenböcke" gebraucht habe.

Eine entsprechende hinreichende Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch insbesondere bei der gebotenen Würdigung der in diesen Zusammenhang gehörenden Ausführungen in der vom Auswärtigen Amt vorgelegten Stellungnahme vom 06. Februar 2012 nicht annehmen. Konkrete Ausführungen zur Frage der - Wahrscheinlichkeit einer - zwischenzeitlichen Einstellung entsprechender, im Sommer 2008 aufgenommener Verfahren enthält die Stellungnahme allerdings nicht. Der Annahme, das Verfahren sei nun eingestellt bzw. werde nun eingestellt - bei einer eventuellen Rückkehr des Klägers -, steht vielmehr entgegen, dass in der Stellungnahme überzeugend ausgeführt ist, eine stark antirussische Rhetorik der georgischen Staatsführung bediene weiterhin nationalistische Sentiments. Hierfür würden auch immer wieder Fälle von Spionage für Russland öffentlichkeitswirksam "aufgedeckt" und geahndet, wobei es sich oft um jedoch nur vorgeschobene Vorwürfe handele. Auch wenn sich diese Ausführungen nicht unmittelbar auf die hier allein interessierende Frage einer Einstellung schon eingeleiteter Strafverfahren beziehen, liegt dennoch auf der Hand, dass dies für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer solchen Einstellung nicht ohne Relevanz ist. Zwar ist in der genannten Stellungnahme ebenfalls - sinngemäß - ausgeführt, Verdächtigungen und Denunziationen wegen des Gebrauchs der russischen Sprache kämen in der Bevölkerung Georgiens gegenwärtig nicht mehr vor. Auch sei allein aus diesem Grund nicht mit Repressalien staatlicher Behörden zu rechnen. Im Ergebnis könne heute - vor diesem Hintergrund - die vorgebrachte Gefährdungslage weitestgehend ausgeschlossen werden. Diese Folgerung erscheint dem Gericht jedoch nur insoweit nachvollziehbar, als der Kläger sich - worauf es hier jedoch offensichtlich nicht ankommt - nicht nur nicht in die Gefahr einer Denunziation begeben würde, sondern hiervon unabhängig auch nicht mit behördlichen Repressalien zu rechnen hätte, wenn er im Falle einer gegenwärtigen Rückkehr nach Georgien dort Russisch sprechen würde. Würde man die genannte Folgerung des Auswärtigen Amtes hingegen darauf beziehen, dass - mithin - weitestgehend auszuschließen wäre, dass er gegenwärtig im Falle einer Rückkehr nach Georgien die Fortführung der gegen ihn im Sommer 2008 eingeleiteten Ermittlungen wegen des Verrats georgischer Stellungen noch zu befürchten hätte bzw. eine erneute Inhaftierung aus demselben Grund, so würde sich hierfür in der Stellungnahme vom 06. Februar 2012 allerdings eine plausible Begründung nicht finden lassen. All dies macht deutlich, dass bei der gebotenen Würdigung der genannten Stellungnahme dieser keine die Annahme tragenden Tatsachen zu entnehmen sind, eine erneute politische Verfolgung des Klägers sei bei einer Heimkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.

Dass dem Kläger gleichfalls ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht, ergibt sich aus Folgendem:

Flüchtling ist ein Ausländer, wenn in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (§ 3 Abs. 1 AsylVfG, § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Freiheit des Klägers ist in Georgien wegen seiner politischen Überzeugung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedroht. Das geht ohne weiteres aus den voraufgegangenen Darlegungen des Gerichts zu dem Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 1 GG hervor. [...]