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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 25.11.2011 - A 6 K 2203/11 - asyl.net: M19625
https://www.asyl.net/rsdb/M19625
Leitsatz:

Bei Vorliegen individueller Besonderheiten - hier: Beziehung zu einer verheirateten Frau - neben der allgemeinen katastrophalen Lage in Afghanistan besteht eine extreme Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt.

Schlagwörter: Afghanistan, Ehebruch, Bedrohung durch die Familie, nichtstaatliche Verfolgung, Verstoß gegen Moralvorschriften, Moralvorschriften, außereheliche Beziehung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der weitere Hilfsantrag hat jedoch Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.05.2011 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als das Bundesamt verneint hat, dass beim Kläger ein (nationales) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt. [...]

Die Entscheidung, ob eine solche extreme Gefahrenlage droht, ist dabei von jedem Gericht auf der Grundlage der von ihm verwerteten tatsächlichen Erkenntnisse in eigener Verantwortung zu entscheiden (BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 a.a.O.). Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung (BVerwG, Urteile v. 08.09.2011 - 10 C 14.10 u.a. -, juris). Zu den allgemeinen in Afghanistan drohenden Gefahren im Hinblick auf Minen, die Sicherheitslage und die Versorgungslage müssen daher für die Annahme einer extremen Gefahrenlage Besonderheiten im konkreten Fall hinzukommen. Bei der richterlichen Überzeugungsbildung sind die Verwaltungsgerichte gehalten, sich mit der abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilung anderer Verwaltungsgerichte in besonderer Weise auseinanderzusetzen (BVerwG, Urt. v. 29.06.2010 und Urteile v. 08.09.2011 jeweils a.a.O.). Im vorliegenden Fall bestehen neben der allgemeinen katastrophalen Lage in Afghanistan individuelle Besonderheiten, die das Gericht in der Gesamtschau zu der Überzeugung führen, dass für den Kläger in ganz Afghanistan eine extreme Gefahrenlage besteht.

Zwar dürfte im Hinblick auf die Gefährdung durch Minen zumindest in den Städten, die von Minen weitaus besser geräumt sind als ländliche Gebiete, die Gefahrenlage nicht mehr extrem sein. Entsprechendes dürfte für die Sicherheitslage gelten, die zwar auch im Raum Kabul immer noch fragil, wegen der Anwesenheit der ISAF-Truppen aber noch vergleichsweise zufriedenstellend ist. Damit kann auch insoweit nicht von einer landesweiten extremen Gefahrenlage ausgegangen werden (vgl. dazu die bisherige Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteil vom 21.06.2011 - A 6 K 4382/10).

Jedoch liegen unter Berücksichtigung der bei dem Kläger festzustellenden Besonderheiten die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts vor. Denn er kann in seiner Heimatregion schon wegen der Bedrohung durch die Familie des Exmannes seiner Frau nicht leben. Er würde auch in Kabul ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie und Bekannte keine Existenzgrundlage finden und wäre auch dort einem erheblichen Sicherheitsrisiko ausgesetzt. Für solche Personen besteht aufgrund der derzeit katastrophalen Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahrensituation im dargelegten Sinne.

Der Kläger hat sowohl bei der Anhörung als auch in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er sich in eine junge Frau aus seiner Nachbarschaft verliebt und drei Jahre lang eine heimliche Beziehung mit ihr geführt habe. Da deren Eltern gegen eine Heirat mit ihm gewesen seien, sei sie mit ihrem Cousin verheiratet worden. Er habe jedoch die Beziehung mit der nunmehr verheirateten Frau fortgesetzt. Als die Schwiegermutter der Frau sie beim Ehebruch erwischt hätte, hätten sie die Schwiegermutter ins Zimmer hineingezogen, an Händen und Füßen gefesselt und ihren Mund verbunden. Danach seien sie zu seinem Onkel mütterlicherseits innerhalb von Herat geflohen. Er habe Angst, dass er von der Familie des Exmannes seiner Frau umgebracht werde. [...]

Der Kläger könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch nicht in Kabul leben. Er ist noch recht jung und mittellos. Er verfügt über kein Netzwerk in Kabul, mit dessen Hilfe er überleben könnte.

Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09.02.2011 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 23.08.2011). Mehr als 50% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Ein Großteil der afghanischen Bevölkerung hat keine Arbeit oder ist stark unterbeschäftigt, was bedeutet, dass viele Familien ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 23.08.2011). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011 über die Lage in Afghanistan ist in den Städten die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Auch die medizinische Versorgung sei - trotz mancher Verbesserungen - aufgrund fehlender Medikamente, Geräte, Ärztinnen und Ärzten sowie mangels gut qualifizierten Assistenzpersonals immer noch unzureichend. [...]

Hinsichtlich der Grundversorgung führt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 09.02.2011 aus, dass die verbreitete Armut in Afghanistan landesweit nach wie vor vielfach zu Mangelernährung führe, obwohl die Ernte 2010 deutlich über dem langjährigen Mittel liege. Im Lagebericht vom 28.10.2009 teilte das Auswärtige Amt mit, dass aufgrund günstiger Witterungsbedingungen mit weit überdurchschnittlichen Niederschlägen die Ernteaussichten für das Jahr 2009 deutlich besser seien als im Dürrejahr 2008. Von den verbesserten Rahmenbedingungen würden grundsätzlich auch die Rückkehrer profitieren. Gleichwohl bleibe die Lage der Menschen in den ländlichen Gebieten, insbesondere des zentralen Hochlandes problematisch. Eine ähnliche Einschätzung findet sich im Lagebericht vom 09.02.2011. Schließlich seien staatliche soziale Sicherungssysteme wie Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung praktisch nicht existent. Die soziale Absicherung liege traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Stammesverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren würden, würden auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehren würden, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen würden. Von den "Zurückgebliebenen" würden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Dr. Mostafa Danesch hat in seiner Stellungnahme an den Hess. VGH vom 07.10.2010 ausgeführt, die Lebensverhältnisse in Afghanistan seien inzwischen so dramatisch, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht hätte, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Das einzige "soziale Netz" in Afghanistan seien die Großfamilie und/oder der Freundeskreis. Über beides verfügt der Kläger nicht. [...]

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der vom Auswärtigen Amt und den anderen Gutachtern geschilderten Rückkehrrisiken, wie oben dargelegt wurde. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass er, wenn er nach Kabul abgeschoben würde, dort ohne familiäres Netzwerk nicht überleben könnte.

Hinzu kommt, dass der Kläger auch keinen speziellen Beruf erlernt hat, mit dem es ihm gelingen könnte, sich in Kabul eine Existenz aufzubauen. Nach der gutachterlichen Stellungnahme von Dr. Karin Lutze vom 08.06.2011 an das OVG Rheinland-Pfalz gebe es in Afghanistan für jegliche Art von qualifiziertem Personal eine umfangreiches Angebot an offenen Stellen. [...] Es sei daher davon auszugehen, dass für einen nicht oder nur gering qualifizierten Rückkehrer ebenso wie für einen einheimischen Arbeitssuchenden mit diesen Voraussetzungen geringe Chancen für eine dauerhafte Beschäftigung mit geregeltem Einkommen bestehen würden. Der Kläger hat bei der Anhörung angegeben, dass er zusammen mit seinen Brüdern in der Sommerzeit in der Landwirtschaft gearbeitet habe, und wenn es keine Arbeit gegeben habe, dann hätten sie Teppiche geknüpft. Als Teppichknüpfer dürfte der Kläger in Kabul keine Chance haben, seinen Lebensunterhalt selbständig zu verdienen.

Dies führt dazu, dass er auch nicht in der Lage wäre, dort eine Unterkunft zu bezahlen. Nach den weiteren Ausführungen von Dr. Karin Lutze in dem genannten Gutachten werde von den Rückkehrern häufig ein Verbleib in Kabul bevorzugt, da dort die wirtschaftliche Entwicklung augenscheinlicher sei und mehr Bewegungsmöglichkeiten für die Jobsuche geboten seien. Das Lebensniveau in Kabul sei aber gleichzeitig durch bedeutend höhere Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Mazar-e-Sharif oder anderen Regionen geprägt. Starke und anhaltende Zuwanderung habe zur Folge, dass Wohnungen oder andere Unterkünfte auf Dauer nicht erschwinglich seien, wenn keine Einkünfte vorhanden seien oder die Unterkunft bei Verwandten gewährt sei. Für sehr einfache Pensionen, die als Unterkunft dienen könnten, seien in Kabul pro Tag mindestens 5 US-Dollar zu zahlen.

Beim Kläger würde sich im Falle einer Abschiebung nach Kabul das Rückkehrrisiko noch deshalb erhöhen, weil er gegen herrschende Moralvorschriften verstoßen hat. Das Gericht hält es grundsätzlich für möglich, dass ein Verstoß gegen den herrschenden Sittenkodex, wie er in Afghanistan und besonders auch in der Region Herat, aus der der Kläger stammt, bezüglich der Zulässigkeit außerehelicher sexueller Beziehungen besteht, eine staatliche Verfolgung nach sich ziehen kann. Für diese grundsätzliche Annahme spricht unter anderem, dass religiös gemäßigte Stammesführer, Religionslehrer oder ähnliche Persönlichkeiten nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Verfolgung bedroht sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Asylsuchende aus Afghanistan, 26.02.2009, Seite 2). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass der Verstoß gegen Sitte und Moral auch nicht dadurch gesühnt werden könne, dass der Mann, die verheiratete Frau, mit der er eine sexuelle Beziehung gehabt habe, später heirate. Nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Berlin im Urteil vom 09.06.2011 - 33 K 285.10 A (juris), denen sich das erkennende Gericht anschließt, führt dieser Weg jedoch nicht dazu, der Sanktion für den Verstoß zu entgehen, sondern nur dazu, die Strafe für das Verbrechen nachträglich zu mildern.

Die Berücksichtigung sämtlicher Umstände führt dazu, dass dem Kläger bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahr droht, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.05.2011 war mithin aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. [...]