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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 20.03.2012 - 6 L 450/12.A - asyl.net: M19642
https://www.asyl.net/rsdb/M19642
Leitsatz:

Keine Rückführung nach Italien im Rahmen einer Dublin II-Überstellung, da dort erhebliche Mängel im Asylverfahren bestehen.

Schlagwörter: Selbsteintritt, normative Vergewisserung, Konzept der normativen Vergewisserung, Italien, systemische Mängel, Asylverfahren, verfassungskonforme Auslegung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 2, GR-Charta Art. 4, AsylVfG § 34a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der so verstandene Antrag hat hinsichtlich des Hauptantrages Erfolg.

Der Antrag ist zulässig. Er ist nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft, weil ein vorrangiger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht kommt (§ 123 Abs. 5 VwGO); denn ein Verwaltungsakt, gegen den ein Rechtsbehelf eingelegt und dessen aufschiebende Wirkung vom Gericht angeordnet werden könnte, liegt derzeit (noch) nicht vor. Eine Bekanntgabe der aktenkundigen Entwurfsfassung des Bescheides vom 29. Februar 2012, der die Durchführung eines Asylverfahrens für unzulässig erklärt (1.) und die Abschiebung der Antragstellerin nach Italien anordnet (2.), ist bislang nicht erfolgt.

Der Antragstellerin kann auch nicht zugemutet werden, erst die Zustellung eines solchen Bescheides abzuwarten, weil angesichts der Regelung in § 34a AsylVfG die Erlangung effektiven Rechtsschutzes i.S.d. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vor Durchführung der Abschiebung dann wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig möglich wäre. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Zustellung des Bescheides entgegen § 31 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG, wonach die Entscheidung des Bundesamtes unverzüglich zuzustellen ist, erst am Überstellungstag und damit unmittelbar vor der Abschiebung erfolgt (Bl. 69 d. Beiakte).

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Danach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (hier: Italien) nicht nicht nach § 80 oder 123 VwGO ausgesetzt werden. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) gelangt der prinzipielle Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bezüglich der Verhältnisse in Italien bereits deshalb nicht zur Anwendung, weil es insoweit durch Tatsachen gestützte und ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür gibt, dass dort das Konzept der normativen Vergewisserung, das § 34a AsylVfG zugrunde liegt, nicht greift. Vielmehr ist demnach aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen, die Art. 4 der Europäischen Grundrechte-Charta zuwiderlaufen, die Annahme eines Ausnahmefalls, der im Wege der verfassungskonformen Auslegung von § 34a AsylVfG die Zulässigkeit gerichtlichen Eilrechtsschutzes rechtfertigt, ernstlich wahrscheinlich (OVG NRW, Beschluss vom 1 März 2012 - 1 B 234/12 A -, juris Rn. 15 ff.).

Erscheint aber die Anwendbarkeit von § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Blick auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die die Verhältnisse in Italien nach wie vor unterschiedlich würdigt (vgl. etwa VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012 - A 4 K 2203/11 -; VG Regensburg, Beschluss vom 29. November 2011 - RO 7 S 11 30564 -. jeweils juris m.w.N.), sowie auf den Umstand, dass hierzu bei dem OVG NRW ein Berufungsverfahren ( (1 A 21/12.A) anhängig ist, dessen Ausgang sich derzeit nicht prognostizieren lässt (vgl OVG NRW, Beschluss vom 1. März 2012 - 1 B 234/12.A -, juris Rn. 27), auch unter Berücksichtigung der Antragserwiderung vom 13. März 2012 insgesamt als offen, so kann bei verfassungskonformer Anwendung der Ausschluss eines Eilrechtsschutzverfahrens, das vor allem die Sicherung der weiteren Durchführbarkeit des Hauptsacheverfahrens bezweckt - hier: des Klageverfahrens 6 K 2643/11 A -, vorliegend nicht gelten (vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 15. September 2-011 - AN 9 E 11.30233 -, juris).

Dies gilt um so mehr, als Anhaltspunkte, die eine andere Bewertung rechtfertigen könnten (vgl etwa zur (Rück-) Überstellung eines Asylbewerbers nach Norditalien VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. September 2011 - 6 L 866/11. A -, juris) im konkreten Einzelfall nicht gegeben sind. Vielmehr ist die Überstellung der Antragstellerin nach Sizilien (Catania), also in die südlichen Landesteile beabsichtigt; diese gehören zu den wirtschaftlich schwächeren Regionen Italiens, die nach den aktuellen Erkenntnissen - gemeinsam mit Rom - die schlechtesten Unterstützungsmöglichkeiten für Asylbewerber aufweisen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht über die Situation von Asylsuchenden u a. Mai 2011, S. 32, abrufbar unter www.fluechtlingshilfe.ch).

Der Antrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sowohl einen Anordnungsgrund auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 u. 3 VwGO i.V.m. § 220 Abs. 2 ZPO).

Ein Anordnungsanspruch, der auf die ermessensfehlerfreie Ausübung des der Antragsgegnerin in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO eingeräumten Selbsteintrittsrechts gerichtet ist, ist nach den vorstehenden Ausführungen hinreichend glaubhaft gemacht.

Ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) folgt daraus, dass die Abschiebung der Antragstellerin nach Italien geplant ist und demnächst bevorsteht. Die Antragstellerin muss damit rechnen, im Rahmen des Verfahrens nach der Dublin-II-Verordnung als Asylsuchende nach Italien überstellt zu werden. Es ist ihr nicht zuzumuten, den Erlass bzw. die Zustellung des als Entwurf bereits in der Verwaltungsakte befindlichen Bescheides abzuwarten. Bliebe der Antragstellerin der Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, würde sie aber in der Hauptsache obsiegen, könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen im Zuge ihrer Überstellung nach Italien nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, der Antragstellerin der Erfolg in der Hauptsache aber letztlich versagt bliebe, wiegen demgegenüber weniger schwer.

Bei dieser Sachlage ist eine Entscheidung über den auf rechtzeitige Bescheidzustellung gerichteten Hilfsantrag entbehrlich. [...]