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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.03.2012 - 10 N 45.08 - asyl.net: M19718
https://www.asyl.net/rsdb/M19718
Leitsatz:

1. Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AsylVfG setzt nicht voraus, dass von dem Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Allgemeinheit ausgeht.

2. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) ist in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen nachträglicher Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umzudeuten, wenn zwischenzeitlich die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung insbesondere des Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet ist.

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Ausschlussgrund, Berufungszulassung, schwerwiegende Straftaten, Straftat, Divergenz, Grundsätzliche Bedeutung, nachträgliche Divergenz, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, gegenwärtige Gefahr, bewaffneter Kampf,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 2, AsylVfG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 78 Abs. 3 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Zwar ist nicht mehr grundsätzlich klärungsbedürftig im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, ob § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AsylVfG voraussetzen, dass von dem Ausländer gegenwärtig noch Gefahren ausgehen. Es ist nämlich zwischenzeitlich geklärt, dass die Ausschlussgründe mit dem Ziel geschaffen wurden, von der Flüchtlingsanerkennung Personen auszuschließen, die als des sich aus ihr ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und zu verhindern, dass diese Anerkennung den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Es entspräche daher nicht dieser doppelten Zielsetzung, den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung vom Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen. Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AsylVfG setzt daher nicht voraus, dass von dem Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Allgemeinheit ausgeht (vgl. näher EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - Rs. C 57/09 und C 101/09 -, NVwZ 2011, 285, juris Rn. 104; BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2011 - BVerwG 10 C 26.10 -, NVwZ 2011, 1450, juris Ls. 2 und Rn. 25).

Die Berufung ist aber wegen einer nachträglichen Divergenz im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zuzulassen, denn die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 30. Januar 2012 zu Recht geltend gemacht, dass die Grundsatzrüge in eine Divergenzrüge umzudeuten ist. Nach allgemeiner Auffassung ist ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen nachträglicher Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umzudeuten, wenn zwischenzeitlich die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung insbesondere des Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet ist. Die Divergenzberufung ist ein Unterfall der Grundsatzberufung und dient ebenso wie diese der Sicherung der Rechtseinheit (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2000 - 2 BvR 2125/97 -, InfAuslR 2000, 308, juris Ls. 2; BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 2000 - BVerwG 9 B 57/00 -, juris; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 22. Januar 2010 - OVG 3 N 110.08 -, juris Ls. 1; Berlit in: GK-AsylVfG, § 78 AsylVfG, Rn. 186 ff. m.w.N.). Die Beklagte hat fristgerecht und mit hinreichender Begründung die grundsätzliche Bedeutung der entscheidungserheblichen o.g. Frage dargelegt. Sie hat auch vorgebracht, dass das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts mit einem die Entscheidung tragenden Rechtssatz von dem vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abweicht, wonach der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AsylVfG nicht voraussetze, dass von dem Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Allgemeinheit ausgehe. Schließlich hat die Beklagte den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügende Ausführungen dazu gemacht, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts auf dieser Abweichung beruht. Zwar rechtfertigt allein der Umstand, dass der Kläger der PKK angehört und den von dieser Organisation geführten bewaffneten Kampf aktiv unterstützt hat, nicht automatisch die Annahme eines Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2011, a.a.O., juris Rn. 35). Nach den Darlegungen der Beklagten war der Kläger aber für die Quartierbeschaffung und die Versorgung der einzelnen PKK-Lager zuständig, weshalb die Möglichkeit besteht, dass bei einer Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände die Annahme gerechtfertigt sein könnte, dass die Voraussetzungen eines Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 AsylVfG vorliegen, was der Klärung im Berufungsverfahren vorbehalten bleiben muss (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. Februar 2011 - 11 LA 491.10 -, NVwZ 2011, 572). [...]