VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 09.03.2012 - 35 K 325.11 V - asyl.net: M19722
https://www.asyl.net/rsdb/M19722
Leitsatz:

1. Gewisse Zweifel an der Rückkehrbereitschaft sind angesichts überwiegender humanitärer Gründe hinzunehmen, wenn der persönliche Kontakt nur in der Bundesrepublik Deutschland oder einem Drittstaat möglich ist.

2. Dem Auswärtigen Amt steht bei Vorliegen der gerichtlich vollumfänglich überprüfbaren Voraussetzungen des Art. 25 Abs. 1 a Visakodex kein Versagungsermessen zu.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Zweifel, Rückkehrbereitschaft, humanitäre Gründe, Auswärtiges Amt, Botschaft, Konsulat, Auslandsvertretung, Visum, Besuchsvisum, Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, Visa-Kodex, Schengener Grenzkodex, begründete Zweifel, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, anerkannter Flüchtling, Achtung des Familienlebens, Verhältnismäßigkeit, Zumutbarkeit,
Normen: VO 810/2009 Art. 25 Abs. 1a, VO 562/2006 Art. 5 Abs. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7, AufenthG § 6 Abs. 1 Nr. 1, VO 810/2009 Art. 32 Abs. 1b
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat nach Art. 25 Abs. 1 a Visakodex Anspruch auf Erteilung eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit.

Die Erteilung eines Visums mit beschränkter Gültigkeit nur für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ist im Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums mit enthalten, da es gegenüber dem einheitlichen, für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten gültigen Visum in räumlicher Hinsicht ein Minus darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 1.10 -, Juris, Rn. 27). Danach wird ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit in Ausnahmefällen erteilt, wenn u.a. der betreffende Mitgliedsstaat es aus humanitären Gründen für erforderlich hält. In diesen Fällen kann der Mitgliedsstaat von den Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e des Schengener-Grenzkodex abweichen. Die Vorschrift des Art. 32 Visa-Kodex steht der Erteilung eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit nicht entgegen, wie sich aus dem Wortlaut des Art. 32 Abs. 1 ("unbeschade" des Art. 25 Abs. 1) unzweifelhaft ergibt. Daher können auch begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussage oder der von dem Antragsteller bekundeten Absicht, das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen (Art. 32 Abs. 1 b Visa-Kodex), im Hinblick auf vorrangige humanitäre Gründe zurückgestellt werden.

Ein solcher Ausnahmefall, der vollumfänglich gerichtlich überprüfbar ist, liegt hier vor. Die humanitären Gründe ergeben sich insbesondere aus der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta. Der Schutz der Familie und das Recht auf Achtung des Familienlebens begründen zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt, sie sind aber im Rahmen der aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen und zu gewichten. Insbesondere gilt dies auch bei der Entscheidung über die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Besuchs der in Deutschland lebenden Angehörigen. Hierzu bedarf es einer einzelfallbezogenen Abwägung zwischen den familiären Belangen mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen kommt es insoweit nicht auf die formal-rechtlichen familiären Bindungen an, entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Dabei ist auch der persönliche Kontakt zwischen den Familienmitgliedern, der über den bloßen Brief- und Telefonkontakt hinausgeht, besonders zu berücksichtigen und gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Zuwanderung und der Vermeidung einer illegalen Einwanderung zu beachten.

Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Ausnahmefall i.S.v. Art. 25 Abs. 1 Visa-Kodex vor. Den in Deutschland lebenden Söhnen ist es nämlich aufgrund ihrer Weigerung des Wehrdienstes bzw. der Anerkennung als Asylberechtigten nicht möglich, den Kläger in Türkei zu besuchen. Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, den persönlichen Kontakt zu seinen in Deutschland lebenden Söhnen nur durch Briefe, Telefonate oder Treffen in einem Drittstaat aufrecht zu erhalten. Die von der Beklagten geltend gemachten Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Klägers wiegen dagegen nicht so schwer. Zwar hat sich der Kläger bislang noch nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten und verfügt nur über eine Rente. Gegen eine dauerhafte Einreise des Klägers in das Bundesgebiet sprechen jedoch gewichtige Indizien. So ist der Kläger in der Türkei familiär verwurzelt, er lebt im Haus seines Sohnes und hat regelmäßig Kontakt zu seinen in der Türkei lebenden Kindern. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der seit 2006 verwitwete Kläger das Grab seiner Ehefrau in der Türkei zurücklässt und den Kontakt zu seinen Kindern in der Türkei aufgibt. Soweit die Beklagte auf die bessere gesundheitliche Versorgung in Deutschland rekurriert, bleibt das Vorbringen spekulativ. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft in die Bundesrepublik Deutschland einreisen will.

Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, dass die Erteilung eines Visums zu Besuchszwecken in ihrem Ermessen stünde. Schon der Wortlaut des Art. 25 Abs. 1 Visa-Kodex ("wird erteilt") steht einer Ermessensentscheidung entgegen. Im Übrigen sprechen Sinn und Zweck der Regelung wie auch die Systematik des Visakodex angesichts der eng begrenzten Tatbestandsmerkmale gegen ein Ermessen der Beklagten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 – OVG 2 B 16.09 –, Juris, Rn. 23). Ohne Erfolg verweist die Beklagte auf § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Eine nationalstaatliche Regelung kann eine unmittelbar geltende Verordnung der Europäischen Gemeinschaft nicht einschränken. Der Umstand, dass die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin mit Beschluss vom 10. Februar 2012 (VG 4 K 35.11 V) verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt hat, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die von der 4. Kammer aufgeworfene Frage der Rechtsfolge des Art. 21 Visakodex ist für den hier vorliegenden Fall des Art. 25 Visakodex ohne Belang.

Im Übrigen hat die Klage hinsichtlich des Hauptantrages jedoch keinen Erfolg.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung eines einheitlichen Visums (Schengen-Visums) nach Art. 21 und 24 Visa-Kodex. Dessen Voraussetzungen liegen nicht vor. Angesichts der fehlenden wirtschaftlichen Verwurzelung des Klägers in der Türkei bestehen begründete Zweifel an der von ihm bekundeten Absicht, das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen (Art. 32 Abs. 1 b Visa-Kodex). Diese Zweifel können nicht durch die gewichtigen humanitären Gründe, wie den eines persönlichen familiären Kontakts, ausgeglichen werden. Das Motiv einer Besuchsreise spielt für die Erteilung eines Schengen-Visums keine Rolle.

Auf die Frage, ob der türkische Kläger visumsfrei zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen für drei Monate einreisen kann, kommt es nicht an, zumal hier der Besuch von Familienangehörigen und nicht der Bezug von Dienstleistungen im Vordergrund steht. [...]