Die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG können es im Einzelfall als geboten erscheinen lassen, die Abschiebung eines Ausländers bis zur Abgabe der Vaterschaftsanerkennung für ein freizügigkeitsberechtigtes Kind und der gemeinsamen Sorgerechtserklärung vorläufig auszusetzen.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel, dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, den Antragsteller vor einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechtes nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU abzuschieben, hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist er dagegen unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Der danach erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig ist und der Antragsgegner beabsichtigt, ihn am 02.03.2012 nach Tunesien abzuschieben.
Der Antragsteller hat auch einen auf die vorläufige Untersagung von Abschiebemaßnahmen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gerichteten Anordnungsanspruch im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO glaubhaft machen können.
Ein entsprechender Anordnungsanspruch ergibt sich für den Antragsteller zwar nicht schon unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten aus seiner familiären Zugehörigkeit zu dem am ... 2012 geborenen italienischen Kind G. Davon abgesehen, dass bislang eine wirksame Anerkennung der Vaterschaft des Antragstellers für dieses Kind noch aussteht, würde einem etwaig daraus herzuleitenden Anspruch des Antragstellers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet als Familienangehöriger einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin gemäß §§ 2 Abs. 2 Nr. 6, 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU entgegenstehen, dass der Antragsteller, der als tunesischer Staatsangehöriger selbst kein Unionsbürger ist, ohne das nach § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU erforderliche Visum eingereist ist. Darüber hinaus hat der Antragsteller bislang nicht glaubhaft gemacht, dass er selbst über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt, wie es das Recht auf Einreise und Aufenthalt als Familienangehöriger eines nicht erwerbstätigen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3 Abs. 2 Nr. 2, 4 Satz 1 FreizügG/EU voraussetzt.
Ebenso wenig kann der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf der Grundlage von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf die von ihm beabsichtigte Eheschließung mit seiner italienischen Verlobten mit Erfolg geltend machen. Nach Art. 6 Abs. 1 GG beachtliche Vorwirkungen vermag eine beabsichtigte Eheschließung im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG allenfalls dann zu begründen, wenn diese unmittelbar bevorsteht, so dass die durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Eheschließungsfreiheit durch die Abschiebung des Ausländers in unverhältnismäßiger Weise beschränkt würde. Von einer unmittelbar bevorstehenden Eheschließung kann dabei grundsätzlich nur dann ausgegangen werden, wenn die Verlobten alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um eine Eheschließung zu erreichen (vgl. hierzu etwa OVG des Saarlandes, Beschluss vom 28.03.2011, 2 B 187/11).
Davon kann fallbezogen indes keine Rede sein, da der Antragsteller einen bereits feststehenden oder jedenfalls bestimmbaren Eheschließungstermin nicht dargetan hat.
Allerdings erscheint es vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie im Hinblick auf das unbestrittene Bemühen des Antragstellers, seine Vaterschaft für das am ... 2012 geborene italienische Kind G. anerkennen zu lassen und zusammen mit der Kindesmutter eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abzugeben, gerechtfertigt, dem Antragsteller die Möglichkeit zur Abgabe der erforderlichen Erklärungen bei dem zuständigen Jugendamt bis spätestens zum 16.03.2012 einzuräumen. Gewichtige öffentliche Interessen stehen dem Erlass der Anordnung nicht entgegen, zumal diese im wohlverstandenen Interesse des Kindes liegt und es sich bis zur formalen Abgabe der Vaterschaftsanerkennung und der Sorgerechtserklärung um einen absehbaren Zeitraum handelt.
Eine weitergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann der Antragsteller dagegen nicht beanspruchen. Auch wenn die in Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, den Antragsgegner als Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich – wie hier – berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen zu berücksichtigen und dem Sorgerecht des nichtehelichen Vaters zum Wohle des Kindes erhebliches Gewicht zukommt, ist es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz nach Art. 6 GG gleichwohl grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, in der Regel hinzunehmen. Denn die Durchführung des Visumverfahrens verhindert ein Zusammenleben im Bundesgebiet regelmäßig nur für einen überschaubaren Zeitraum (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 04.12.2007, 2 BvR 2341/06, InfAuslR 2008, 239, und vom 10.05.2008, 2 BvR 588/08, InfAuslR 2008, 347).
Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller eine auch nur vorübergehende Trennung von seinem italienischen Kind nicht zumutbar sein könnte, um das Visumverfahren nachzuholen, sind weder dargelegt noch ansonsten ersichtlich. Den schutzwürdigen Belangen des Antragstellers kann, worauf der Antragsgegner zu Recht hingewiesen hat, gegebenenfalls durch auf den Zeitpunkt der Ausreise zu befristende Sperrwirkungen nach § 11 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG sowie die zeitnahe Zustimmung zur Visumerteilung Rechnung getragen werden. [...]