Die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist für österreichische Staatsbürger, die sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche berechtigt in der Bundesrepublik aufhalten, nicht anwendbar.
Österreichische Staatsbürger können sich auf das Gleichbehandlungsgebot des bilateralen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege vom 17. Januar 1966 (FürsAbk AUT) berufen.
Arbeitslosengeld II ist Fürsorge im Sinne des FürsAbk AUT.
Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2 Abs. 1 FürsAbk AUT findet nicht alleine auf Hilfebedürftige Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht zur vorläufigen Gewährung von Leistungen an die Antragstellerin nach dem SGB II verpflichtet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag durch Beschluss eine einstweilige Anordnung treffen, wenn entweder die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder wenn die Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt im Regelfall sowohl das Bestehen des Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. eines materiellen Rechts als Grundlage für die mit der Regelungsanordnung zuzusprechende formelle Rechtsposition, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 ZPO). Sie stehen aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs in einem beweglichen System und nicht beziehungslos nebeneinander, wobei der Anordnungsanspruch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs indiziert (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 19. November 2008 - L 8 B 298/08; Juris).
Ist ein Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht bereits auszuschließen, weil insbesondere eine abschließende Sachaufklärung im Eilverfahren nicht möglich ist, bedarf es grundsätzlich einer Folgenabwägung, in welche die grundrechtlichen Belange der Antragsteller, namentlich die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines die Menschenwürde wahrenden Existenzminimums, umfassend einzustellen sind (BVerfG, 1. Senat 3. Kammer, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, Breithaupt 2005, 803-808). Dabei haben sie sich die Sozialgerichte schützend und fördernd vor die Wahrung der Menschenwürde zu stellen und eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint, zu verhindern (BVerfG, a.a.O.).
Der Senat hält die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall nicht für anwendbar. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Die Antragstellerin ist als österreichische Staatsangehörige Ausländer im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Sie hält sich jedenfalls seit dem 01. Juni 2010 berechtigt in der Bundesrepublik auf. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergibt sich gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche. Dies ergibt sich für den Senat bereits aus der Arbeitssuchendmeldung der Antragstellerin und der Eingliederungsvereinbarung mit der Bundesagentur für Arbeit. Dadurch hat die Antragstellerin ihre Arbeitssuche dokumentiert und für den Senat glaubhaft gemacht. Auf ein anderes Aufenthaltsrecht, das - wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt - den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lassen würde, kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg berufen. Die Herstellung einer (beabsichtigten) Lebensgemeinschaft mit Herrn M. S. stellt jedenfalls keinen Grund dar, der zu einem Aufenthaltsrecht führt. Die Antragstellerin ist auch keine Familienangehörige im Sinne des § 3 Abs. 2 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU. Ihr steht derzeit auch kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU zu.
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist jedoch hier bereits deswegen nicht anwendbar, weil die Antragstellerin sich auf das Gleichbehandlungsgebot des bilateralen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege (FürsAbk AUT) vom 17. Januar 1966 (BGBl II 1969, 2 ff.) berufen kann (a.A. LSG Nordhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Juni 2010 – L 1 AS 36/08, Juris).
Art. 2 Abs. 1 des Abkommens bestimmt, dass Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt wird. Bei dieser Vorschrift handelt es sich nach der Ratifikation durch den Bundestag nach Zustimmung des Bundesrates am 28. Dezember 1968 (BGBl. II, 1969 Nr. 1, S. 1) um unmittelbar geltendes Bundesrecht dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall auch kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht. Denn innerstaatliches Recht ist nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 58, 1, 34) so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Zugleich gilt der in § 30 Abs 2 SGB I enthaltene und über den dortigen Regelungsgehalt hinausgehende allgemeine Rechtsgrundsatz des Vorrangs über- und zwischenstaatlichen Recht vor inländischen Normen (BSGE 52, 210, 213; vgl. zur Parallelproblematik beim Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA), BSG Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R, Juris, Rdnr. 24 f.).
Das bilaterale Fürsorgeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Österreich findet im vorliegenden Fall Anwendung, da es sich beim Arbeitslosengeld II um Fürsorge im Sinne des Abkommens handelt. Somit liegen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 2 Abs. 1 FürsAbk AUT vor (a.A. Thie/Schoch in Münder LPK-SGB II, 4. Auflage, § 7 Rdnr. 29).
Gemäß Art. 1 Nr. 4 FürsAbk AUT sind alle gesetzlich begründeten Geld-, Sach-, Beratungs-, Betreuungs- und sonstigen Hilfeleistungen aus öffentlichen Mitteln zur Deckung und Sicherung des Lebensbedarfes für Personen, die keine Voraussetzung als die der Hilfsbedürftigkeit zu erfüllen haben, Fürsorge im Sinne des Abkommens. Die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II normierte Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit ist keine „weitere Voraussetzung“ im Sinne des Art. 1 Nr. 4 FürsAbk AUT. Sie dient lediglich der mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 neu geschaffenen Abgrenzung zum (Adressatenkreis des) wohl unzweifelhaft unter dem FürsAbk AUT fallenden SGB XII.
Da die mit dem Abkommen in Kraft getretenen Durchführungsverordnung zum FürsAbk AUT (BGBl. II, 1969 Nr. 45, S. 1285) hinsichtlich dieser Auslegungsproblematik unergiebig ist, geht der Senat nach dem (mutmaßlichen) Willen der Vertragsschließenden davon aus, dass Sozialleistungen nur dann vom Anwendungsbereich des FürsAbk AUT ausgeschlossen sind, wenn sie auf Beiträge oder sonstige Leistungen des Fürsorgebedürftigen zurückgehen. Das Arbeitslosengeld II ist jedoch eine steuerfinanzierte (nachrangige) Fürsorgeleistung (vgl. Urteil des BSG vom 31. Oktober 2007 - B 14/11b AS 5/07 R - BSGE 99, 170) und somit Geldleistung im Sinne des Abkommens. Anders als die Arbeitslosenhilfe und vergleichbar mit der Sozialhilfe im BSHG bzw. im SGB XII ist das SGB II ein bedarfsabhängiges Leistungssystem. Zudem fehlen dem SGB II der Sozialversicherungscharakter und der Beitragsbezug. Darüber hinaus ist die Fürsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik nach dem Außerkrafttreten des BSHG zum 1. Januar 2005 nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII beschränkt. Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende unterscheiden sich zwar im Wesentlichen – bei der Erwerbsfähigkeit der Hilfebedürftigen - nach ihrem Adressatenkreis. Der Fürsorgecharakter des SGB II bleibt davon jedoch unberührt (vgl. zur Parallelproblematik beim EFA, BSG, a.a.O., Rdnr. 33).
Die Arbeitslosenhilfe war bis zum 31. Dezember 2004 unter anderem wegen ihres zusätzlichen Kriteriums (Arbeitslosengeldbezug in der Vorfrist) nicht unter den Anwendungsbereich des FürsAbk AUT zu subsumieren. Allerdings haben die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich in dem Abkommen über Arbeitslosenversicherung vom 19. Juli 1978 (BGBl. 1979 II, So 790) unter anderem die Arbeitslosenhilfe aufgenommen, so dass in der Vergangenheit insoweit keine „Fürsorgelücke“ gegeben war, die nach Ansicht des Senats durch die Gesetzesänderungen des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 ab dem 01. Januar 2005 auch nicht entstehen sollte.
Ferner ist es unschädlich, dass im Anhang I zum FürsAbk AUT als anzuwendende Fürsorgegesetze (soweit ersichtlich) noch immer – entgegen der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Mitteilung geänderter bzw. neuer Rechtsvorschriften gemäß Art. 13 Abs 2 FürsAbk AUT – das BSHG neben weiteren Gesetzen genannt wird. Die Aufzählung der Fürsorgegesetze in der Anlage I ist jedoch nicht konstitutiv (vgl. BSG [zur Parallelproblematik beim EFA] a.a.O., Rdnr. 34).
Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2 Abs. 1 FürsAbk AUT findet schließlich auch nicht alleine auf solche Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben (so aber LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., Rdnr. 30). Gemäß Abschnitt A. Nr. 1 des Schlussprotokolls sollen die aus dem Abkommen resultierenden Vergünstigungen Personen nicht zugute kommen, die das jeweilige Hoheitsgebiet aufsuchen, um diese Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Bereits aus dem Wortlaut geht hervor, dass grundsätzlich auch eine Hilfebedürftigkeit zum Zeitpunkt der Aufenthaltsnahme im anderen Hoheitsgebiet denklogisch nicht die Anwendbarkeit des Abkommens ausschließen soll. Ansonsten hätte es dieser Feststellung im Schlussprotokoll nicht bedurft. Die Ausschlussklausel soll ausdrücklich nur die Fälle erfassen, bei denen die Hilfesuchenden gerade mit dem Zweck der Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen einreisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juni 1980 – 5 C 66/79; Juris, Rdnr. 11). Für einen entsprechenden Vorsatz ist im vorliegenden Fall nichts vorgetragen bzw. ersichtlich.
Da der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die Antragstellerin mithin bereits aufgrund der vorrangigen Geltung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art. 2 Abs. 1 FürsAbk AUT keine Anwendung findet, bedarf es an dieser Stelle keiner Erörterung, ob der Leistungsausschluss zudem wegen des Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben unanwendbar ist.
Die Antragstellerin hat schließlich trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen auch ihre (unbestrittene) Erwerbsfähigkeit (§ 8 SGB II) sowie ihre Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II) glaubhaft gemacht, so dass die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen war. [...]